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am 1. Maerz 2000
Liebe Gertraud, lieber Bernd,
Dank fuer Euern Brief, welchen ich unverzueglich
beant-
worten will, aus Besorgnis dasz Ihr, wenn nicht jetzt
vielleicht erst nach uebermaeszig verstrichener Zeit,
oder
nie, eine Antwort darauf bekaemt. So bin ich mir pein-
lich
bewuszt, Euern vorletzten Brief ueberhaupt nicht beant-
wortet
zu haben, ein Versaeumnis fuer welches ich kaum eine
Entschuldigung zu bieten habe, es sei denn dasz meine
Tage
mit so intensiver Bautaetigkeit verausgabt wurden, dasz
ich
mir nicht die Zeit goennte die zu einem Brief erforder-
liche
Sammlung der Gedanken und Klaerung der Gefuehle zu be-
waelti-
gen.
Aeuszerliches gibt es von uns kaum etwas zu
berichten.
Gesundheitlich geht es uns dem Alter entsprechend lei-
dlich
gut. Vor einigen Monaten erfuhr Margaret auf Grund ein-
er
Druckstoerung des sciatic nerve eine unvollstaenige
Laehmung
des rechten Fuszes, welche sie beim Gehen beschwerte,
sich
seither aber wesentlich verbessert hat. Abgesehen von
den
wenigen Patienten welche ich noch verarzte,
beschaeftige ich
mich fast ausschlieszlich mit dem Anbau zu unserem
Hause
welchen ich Euch schon in einem frueheren Brief
beschrieb.
Weil ich sie fast vollkommen allein bewerkstellige,
geht die
Arbeit nur langsam vor sich. Im Augenblick beschaeftigt
mich
der Einbau der dreistoeckigen Wendeltreppe. Dann kommt
das
Streichen der Gipswaende, das Einbauen der Innentueren
und
der eichenen Fuszboeden; der Einbau des Kachelwerks in
den
Badezimmern und zuletzt die Installierung von
Waschbecken,
Toiletten und Beleuchtungskoerpern. Es sollte moeglich
sein, diese Arbeiten in drei Monaten zu beenden, aber
wahrscheinlich wird es laenger dauern, und manchmal
fuerchte
ich dasz ich nie damit fertig werde. Und es ist let-
zten En-
des diese Besorgnis die mich zu so ununterbrochener Ar-
beit
getrieben hat, dasz ich meine Antwort auf Euern Brief
ver-
saeumte. Sogar meine dilettantischen literarischen Be-
mue-
hungen habe ich mir unterbrechen lassen. Ich beab-
sichtige
sie, so bald dieser Excurs ins Handwerk es mir erlaubt,
wieder aufzunehmen.
Wenn ich zum Arbeiten zu muede bin, oder im Auto
oder
sonst zum Warten genoetigt bin, lese ich mit viel Be-
wun-
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derung in Franz Schnabels Geschichte des neunzehnten
Jahrhunderts, ein bemerkenswertes Werk das Euch sicher-
lich
bekannt ist. Dabei erinnere ich Rilkes Feststellung:
"Das
was geschieht, hat einen solcehn Vorsprung vor unserm
Meinen, dasz wir es nie einholen, und nie erfahren, wie
es
wirklich aussah." und frage mich, wie die Grenze zwis-
chen
Mythos und gewesener Wirklichkeit zu bestimmen waere,
oder
ob das Bestehen einer solchen Grenze nicht vielleicht
auch
Taeuschung ist.
Indem ich aelter werde, duenkt mich das Leben
traumhaft
in steigendem Masze, so dasz ich nicht selten vor eine
Erin-
nerung trete, wie vor ein geheimnisvolles Gemaelde, und
mich
frage, ist es die Wirklichkeit oder ist es nur Vorstel-
lung
die ich zu erinnern meine.
* * * * *
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