20000406.00
Die Grenze der schopenhauerischen Philosophie liegt eben
darin, dasz insofern die Welt Vorstellung ist, der Wille als Ding
an Sich, d.h. der Ausdruck des Willens in der organischen und
anorganischen Natur gleichfalls jenseits des Vorstellungszaunes
existieren musz. In dieser Hinsicht birgt schon der Titel des
Werkes einen Widerspruch. Ist die Welt Wille so vermag sie nicht
Vorstellung zu sein; denn ist sie Vorstellung so ist auch der
Wille in seiner Offenbarung in ihr lediglich Vorstellung, und
demgemaesz ontisch belanglos.
Mich ueberzeugt eine andere Fassung dieser Problematik:
naemlich, dasz ebenso wie unsere Vorstellung eine Grenze meines
Erlebnisses von des Welt bezeichnet: eine Welt anders als die
meiner Vorstellung kenne ich nicht: so bezeichnet mein Wille
(bezw. mein Erleben meines Willens) eine andere Seite meines
Begreifens der vorgestellten Welt. Mein Wille ist jener Inhalt,
jene Eigenschaft meines Bewusztseins, der mein Handeln, mein
Sein, mein Dasein sinnvoll macht, der meine Vorstellung von mir
selber von meiner Vorstellung von der Auszenwelt unterscheidet;
So wie es mir unmoeglich ist meine eigene Existenz auszerhalb des
Bannes meines Willens zu begreifen, so ist es mir unmoeglich eine
willenslose Welt vorzustellen. Wie ich meinen Willen als Ursache
meiner Handlungen betrachte, so musz mir alle Verwandlung, alle
Bewegung, alle Veraenderung in der vorgestellten Welt, als von
einem (Pseudo)Willen getrieben erscheinen. Diesen Pseudowillen
heisze ich Kausalitaet, Ursache; und insofern ich die Welt als
sich wandelnd, als von Ursachen getrieben begreife, ist es
verstaendlich, dasz ich die als Ausdruck eines Willens
beschreibe, nicht als Ausdruck _meines_ Willens, sondern als
Ausdruck _ihres_ Willens, von dem meinen verschiedenen Willens
begreife, obgleich dieses Begreifen des fremden Willens nur im
Vergleich mit dem eigenen, nur im Rahmen des eigenen statt finden
kann.
Von Schopenhauer uebersehen, oder allenfalls ungenuegend
betont, ist die Tatsache, dasz die Entwicklung des Menschen, die
spontane nicht weniger als die erzieherisch gefoerderte, auf die
Gestaltung einer gemeinsamen, homogenen Weltvorstellung abziehlt.
Das und nichts anderes ist die sogenannte wissenschaftliche
Ausbildung. Es ist ausgerechnet die Einfoermigkeit (uniformity)
der Weltbilder zahlloser an einer Wissenskultur Beteiligten
welche dieser Bilder Gueltigkeit zu bestaetigen scheint.
Darueber hinaus haben sich im Laufe der Jahrzehnte und
Jahrhunderte Verfahrensweisen entwickelt welche die Wirksamkeit
(effectiveness) bezw. Gueltigkeit des Weltbildes verbuergen. Es
liegt jenseits jeglichen Zweifels, dasz das gemeinsame Weltbild
ueber alle Maszen wirksam und brauchbar ist: in sofern naemlich
es die gesamte moderne Technik ermoeglicht. Es ist jedoch ein
allgemeiner Irrtum, von Brauchbar- und Wirksamkeit auf die
objektive Unabhaengigkeit und Selbststaendigkeit jenes
Weltbildes, jener Weltvorstellung zu schlieszen, denn wie wirksam
sie auch immer sein mag, Vorstellung bleibt sie doch: und ist
wirksam gerade (ausgerechnet) _weil_ sie Vorstellung ist.
Die Aufgabe des Denkens (der Philosophie) im Bereich der
Erkenntnis ist Entstehung, Entwicklung, Wirksamkeit, und Verfall
des gemeinsamen Weltbildes nachzugehen; und diese zu beschreiben.
Vor allem aber die von der Weltvorstellung ausgehende Illusion
von unabhaengiger Wirklichkeit als die Taeuschung aufzuweisen
welche sie ist.
Die Vorstellung ist stets _meine_ Vorstellung. Die Worte
welche ich spreche sind auch stets _meine_ Worte. Das aendert
nichts an der Tatsache, dasz _meine_ Vorstellung von der Welt
eine gesellschaftlich gezuechtete ist; dasz ich sie mir zwar
aneigne und sie als meine eigenste Vorstellung betrachte; dasz
sie mir aber tatsaechlich durch oft unscheinbare Quellen
(inapparent sources) aufgedraengt wird.
Es ist mit einer gewissen Verlegenheit und Beschaemtheit,
dasz ich feststellen musz, dasz mit der Entdeckung der
gesellschaftlichen Basis der Weltvorstellung, das
Erkenntnisproblem, wenngleich nicht geloest, so doch auf ein
neues Gebiet verlegt ist auf welchem es der Darlegung und Deutung
um manches zugaenglicher wird.
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