20000418.00
"Die Liebe schneidet ins lebend'ge Fleisch." hat
Hofmannsthal irgendwo geschrieben. Und Hoelderlin: "Aber der
Liebe Leid, dies heilet sobald mir nicht." Zeugnisse fuer das
Leiden an der Liebe als Ur-Problematik des Menschendaseins.
Warum nicht versuchen auch dies "klinisch" zu bewaeltigen: es
wenn nicht als Schwachheit so doch als dem Menschen
eigentuemliche Verwundbarkeit. Ob ein aehnliches Leiden auch zum
Schicksal der Tiere gehoert, wage ich nicht zu beurteilen. Dies
ist aber keineswegs eine moderne Erscheinung. Die Spuren des
Liebesleids sind schon in Abrahams Pilgerfahrt zum Moriahberg
erkenntlich, in Jakobs Kummer um seinen verlorenen Joseph, in der
Geschichte von Ruth, in Davids Liebe zu Jonathan, in der Liebe
Achills zu Patroklus, in Odysseus Sehnsucht nach seiner Heimat.
Die Goettersagen der Griechen lassen sich dann auch als Zeugnisse
einer universellen Erotik verstehen.
Um Miszverstaendnissen vorzubeugen, musz gesagt sein, dasz
entgegen dem zeitgenoessischen Vorurteil ist die Erotik
keineswegs auf geschlechtliches Verlangen beschraenkt, obgleich
in den kulturellen Umstaenden der Zeit geschlechtlicher Bedarf
der allgemeinste, und manchmal scheint es, der einzige Herd
(Brennpunkt, focus) erotischen Erlebens ist. Tatsaechlich aber,
so scheint es mir, sind Geschlecht und Eros, wenngleich sie des
oefteren zusammenfallen (coincide) im Grunde doch gaenzlich von
einander verschieden; insofern als die Geschlechtstriebe durchaus
in Abwesenheit jeglicher erotischen Leidenschaft befriedigt zu
werden vermoegen, und die Liebe, zum Beispiel von Eltern zu
Kindern, und Sigmund Freud ungeachtet, von Kindern zu Eltern, als
erotische Not, aber keineswegs als geschlechtliches Beduerfnis
gedeutet werden musz.
Das Merkmal der erotischen Liebe ist die Not des Liebenden
welche durch den geliebten Menschen behoben wird. Dasz diese Not
ausschlieszlich geschlechtlich sein sollte, ist ein vulgaeres
Vorurteil. Die Wurzel der Erotik ist nicht die Angewiesenheit auf
einen Geschlechtspartner zur Fortpflanzung; sondern es ist die
Angewiesenheit auf einen gleichgesinnten Menschen um die
Feindseligkeit, die Konkurrenz des anderen zu ueberwinden und
sich mittels dieser Ueberwindung in der Welt einheimisch zu
machen. Denn es ist unmoeglich zu verkennen, dasz wir Menschen
einerseits mit einander konkurrieren, gegeneinander eifern,
andererseits aber, um zu Leben, einander bedingungslos
benoetigen. Dieser Widerspruch zwischen naturhafter
Feindseligkeit zwischen den Menschen und ihrer unbedingten
Angewiesenheit auf einander, dieser Widerspruch ist die Quelle
aus welcher das Liebesleid immer aufs Neue hervordringt.
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