20000515.01
Wenn ich nicht irre, hat Nietzsche gesagt, dasz der Wille
zum System der Wille zur Luege ist. Vermutlich meinte er mit
diesem Urteil seinen aphoristischen Stil zu rechtfertigen, und
aus der Not eine Tugend zu machen. Die Sache ist so einfach
nicht. Einerseits entspricht ein "System" einem inneren
Zusammenhang im Gemuete des Denkenden, entspricht dem Beduerfnis
verschiedene Gedankengaenge, Gedankengaenge welche sich zu
verschiedenen Zeiten einstellen, miteinander zu vereinbaren.
Dass ein "System" nicht von selbst entsteht, dass ein "System"
sich nicht spontan entwickelt, ruehrt von den Veraenderungen,
welche dem Gemuet widerfahren, ruehrt von der Mattigkeit und
Schwaeche des Gedaechtnisses, welche sich heute nicht mehr zu
vergegenwaertigen vermag womit es sich gestern beschaeftigte.
Ein "System" zu entwickeln bedarf ungemeiner Sammlungsfaehigkeit,
erfordert die Faehigkeit den gegenwaertigen Gedankengang durch
vergangenes Denken bestimmen zu lassen, indem man die spontane
Erfindungs- und Entdeckungslust unterdrueckt. Ein "System" zu
entwickeln verlangt, dasz man spontanes Denken von erinnertem
Gedachten unterdruecken laeszt, fordert den Ersatz der
anderweitig unmittelbar erlebten Wirklichkeit durch ein
erinnertes Gedankenschema. In dieser Hinsicht ist das System
etwas Erdachtes, etwas Gekuensteltes, unnatuerliches: und darin
liegt seine Unwahrheit. Darueber hinaus bueszt, infolge seiner
Entfernung vom unmittelbar Erlebten, das "System" wesentlich an
Wirksamkeit ein; denn wie befriedigend auch fuer ihren Verfasser
die Symmetrie und innere Uebereinstimmung des Gedachten sein mag,
als Hinweis auf Wirklichkeit steht es dem spontan Erdachten
wesentlich nach.
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