20000520.01
Es waltet auf den Gebieten welche man der Ethik zuschreibt,
ein groszes Durcheinander. Die Ethik soll einerseits Ausdruck
des Willens Gottes sein, sie soll mit den Gepflogenheiten der
Gesellschaft vereinbaren lassen, soll den staatlichen Gesetzen
genuege tun, soll das Wohl der Menschheit befoerdern, soll der
Integritaet der Natur tunlich sein, soll dem Menschen eine
Richtlinie fuers Handeln bieten; und tut doch am Ende nichts
dergleichen.
Ich vermute, dass es ueber meine Kraefte geht, und ich
betrachte es nicht als meine Aufgabe, die verschiedenen sich
kreuzenden, sich widersprechenden Begriffe zu sondern; auch nicht
als meine Aufgabe ein System der Ethik zu entwerfen, etwa mit dem
verdeckten Vorhaben es zu veroeffentlichen um andere davon zu
ueberzeugen.
Auch meine ich, nachdem ich siebzig Jahre ohne eine
systematische Ethik ueberlebt habe, die restlichen Jahre meines
Lebens in eben derselben Unwissenheit zu verbringen zu koennen.
Nein, wenn ich am heutigen Abend die verschiedenen Excursionen
ueber die Ethik die mir einfallen, zu ordnen suche, und zwecks
der Aufklaerung einer kritischen Betrachtung unterziehe, so tue
ich dies aus reiner Liebhaberei, aus Freude am Denken und am
Gedachten, aus Freude vor allem daran, die Geisteswelt in der ich
mich befinde zu verstehen und zu deuten, so gut ich es kann.
Ich blicke hinaus auf, ich betrachte und bedenke eine
mannigfaltige Landschaft der Begriffe, und mir scheint, dass mein
Angriffspunkt eher eine Frage des Stils bezeichnet als des
Inhalts; denn die Verschiedenheiten die ich betrachte haben als
Gemeinsames nichts als den Namen Ethik.
Vielleicht ist es eine unausgesprochene Vorliebe zu
aristotelischer Deduktion, Ableitung, die mich veranlaszt als
Ausgangspunkt das Thema zu waehlen, dasz es die unbedingte
Verpflichtung des Menschen ist den Willen Gottes zu tun, dass,
mit anderen Worten, die Ethik die Lehre von Gottes Willen ist.
Zugleich vermute ich, dass dieser Ausgangspunkt sich zugleich als
Endpunkt meiner Betrachtungen erweisen wird, und dass der Wert
meiner Betrachtungen darin liegen wird, manches Leere,
Ueberfluessige, Verkehrte was sonst als ethisch bedeutsam
betrachjtet wurde, beseitigt zu haben.
Dass es die Pflicht des Menschen sein sollte Gottes Willen
zu tun weist einerseits auf die hohe Bedeutung, auf den tiefen
Sinn, auf den groszen Wert, welche ich der menschlichen Handlung,
das heiszt, in erster Linie, meiner eigenen zumesse; denn was
immer er auch sei, der Wille Gottes ist etwas sehr Hohes und
Erhabenes. Diese Feststellung sagt aber nichts darueber aus, was
denn der Wille Gottes sei, sagt nicht einmal, was ich mir unter
dem Begriff Gott vorzustellen habe.
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