20000803.00
Die bedeutende Rolle (pivotal Role) welche Cassirer den
Untersuchungen ueber hirngeschaedigte Patienten, den Berichten
der Neurologen, Goldstein und Gelb, Jackson, Head, Wernicke und
Broca, um nur die zu nennen deren Namen mir einfallen, einraeumt,
ist viel besagend fuer seine Methode unter vermeintlichen
gegenstaendlichen, objektiv wissenschaftlichen Berichten,
Andeutungen fuer das (subjektive) Seelenleben des Einzelnen zu
erhaschen. Dies ist denn ja auch das Verfahren dessen Philosophen
von Platon bis Kant sich bedienten mit den Ergebnissen, dasz
ihren Folgerungen dieselbe Zeideutigkeit des Widerstreites von
Ich und Welt, von Innen und Auszen anhaftete welche in ihre
Praemissen (Vorsaetze) einging.
Ein alternatives Vorgehen ist schwer zu finden. Einfach aus
dem Stegreif wie ein lyrischer Dichter drauflos zu schreiben; die
Ergebnisse historischer und wissenschaftliche Untersuchungen
verschmaehend verhoehnend und beschimpfend, wie Kierkegaard es
tat, ist ebenfalls nicht zufriedenstellend; denn es ist ja
unmoeglich die Gesinnung der Oeffentlichkeit an welche man sich
richtet zu ignorieren, und in dem Falle, dasz man vorgibt sie zu
verschmaehen, tut man ihnen vielleicht eine noch groeszere Ehre
an als wenn man sie lobte, indem man seine Unfaehigkeit zugibt,
mit ihnen zurande zu kommen.
Die epistemologische Methode welche ich selber angestrebt
habe, wenngleich nicht mit uebermaeszigem Erfolg, ist zu
versuchen mir die Ergebnisse der Wissenschaften anzueigenen, sie
zu verstehen, oder jedenfalls, das was an ihnen zu verstehen ist
zu assimilieren, (mich dessen was an ihnen zu verstehen ist zu
vergewissern.) Somit wird das eigene Gemuet von der objektiven
(geistigen) Umwelt beeinfluszt, modifiziert, verwandelt; und wenn
es hernach seinen Gedanken, Gefuehlen, Erlebnissen Ausdruck gibt,
so ist die assimilierte Wissenschaft in diesem Ausdruck mit
einbegriffen.
Es ist wenig in den Darstellungen Cassirers das
ueberzeugender ist, als sein Hinweis, dasz selbst schon die
Wahrnehmung von der symbolischen Praegnanz der Sprache
beeinfluszt, modifiziert, wenn nicht gar gestaltet wird. Je
groeszer die Rolle der Sprache, der Begriffe, des Denkens im
Geistesleben des Einzelnen um so entscheidender ist ihr Einflusz
auf die Wahrnehmung der Auszen- wie auch der Innenwelt. Diese
Einsicht nun, diese Erkenntnis hat zu Folge, dasz Unterschiede im
Verstaendnis - oder in der Bedeutung - eines Begriffes,
unvermeidlich auf unterschiedliche Wahrnehmungen hinauslaufen
(result in different perceptions). Gegen diese Unterschiede bin
ich umso empfindlicher, als mir die Uebetragung vom Deutschen ins
Englische und vom Englischen ins Deutsche eine bestaendige
Beschaeftigung ist, welche mich gegen die Unterschiedlichkeiten
der Sprachen und die Unmoeglichkeit einer Wort- oder
begriffsgetreuen Uebersetzung sehr empfindlich macht.
So gibt es z.B. fuer das Wort Raum, zwei englische
Uebersetzungen, room und space. Wie vermag nun, wenn das
Stadtbild welches ein Mensch wahrnimmt seinen Ausdruck zum Teil
dem Begriff "Raum" verdankt dasselbe Stadtbild sein welches
seinen Ausdruck zum Teil dem Begriff "space" verdankt? Noch
groeszere Schwierigkeiten bereitet das Wort "Geist" fuer welche
das Englische unter anderen die Worte: ghost, spirit, breath,
mind, intellect, apparition, phantom, genius bietet, deren keines
jedoch sich fuer die Uebetragung von "Geisteswissenschaften"
eignet. In entgegensetzter Richtung, find ich im Deutschen
keinen Ausdruck der dem schoenen englischen Wort "mind"
entsprechen moechte.
Diese Erwaegungen leiten mich zu dem Beschlusz, dasz wenn
die Warhnehmungen der Menschen, wie Cassierer behauptet, und wie
ich willig zustimme, Ihren Inhalt und Audruck groszen Teils von
ihrem Sprachvermoegen abhaengen, dasz dann die Wahrnehmungswelten
in welchen die Menschen leben unendlich verschiedener sind, als
wir gewoehnlich voraussetzen, nicht nur weil ihre Muttersprachen,
Deutsch, Englisch, Franzoesisch unterschiedlich sind, sondern
mehr (wichtiger) noch, weil auch das Erleben (Verstaendnis) einer
einzelnen Sprache zwischen den Menschen in ungeahntem Masze
verschieden ist.
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