20000806.00
Gestern abend habe ich zum zweiten Mal Cassirers
Beschreibung der mathematischen Streitigkeiten ueber Grundlagen
und Mengenlehre gelesen. Ich meine seine Ausfuehrungen
verstanden zu haben, aber die logischen Eroerterungen duenken
mich so kleinlich, so nebensaechlich, so geringfuegig, so
unerheblich, so gering, so trivial, dasz ich mich frage ob nicht
vielleicht hier die Grenze zwischen dem ernsten, ehrlichen Denken
und der Taschenspielerei ueberschritten ist. Und ich vermag nicht
meine Vermutung zu verhehlen dasz ins besondere auf dem Gebiete
der mathematischen Logik eine solche Grenze besteht.
Aber zurueck zu meiner analytischen Beschreibung unserer
Wanderung auf Fees Ridge. Sie war noch ganz am Anfang. Ich bin im
Begriff den steilen Holzweg zu betreten. Ist es notwendig ihn zu
"erkennen" um dies zu tun? Zweifelsohne "erkenne" ich den
Holzweg, insofern ich ihn benenne, seinen Bau, seine Richtung,
seine Dimensionen beschreibe. Aber ist er auch Gegenstand meiner
Erkenntnis wenn ich ihn lediglich betrete, ohne mir die eben
erwaehnten Urteile zu erlauben? Gesetzt ich saehe den Holzweg
nicht einmal, betraete ihn, von einem freundlichen Fuehrer
geleitet, mit verbundenen Augen, besagte dann mein Gang ein
Erkennen? Waere dieser Gang ueber den Holzweg unterscheidbar von
einem Gang ueber einen Bauernhof oder ueber einen Stoppelacker?
Ganz allgemein gefragt, ist zum einfachen Gehen die Erkenntnis
noetig? Und wenn nicht, was ist die geistige Taetigkeit welche
genuegt den Erkenntnisvorgang auszuloesen? Oder sollte das
einfache Gehen nicht als geistige Taetigkeit gelten?
Diese bescheidenen geringen Fragen erwecken den Eindruck,
dasz an dem Begriff der Erkenntnis etwas gekuensteltes, etwas
Gewolltes haftet; dasz die Erkenntnis, was immer sie sei, in die
Reihe der geistigen (intellectual, mental) Taetigkeiten
eingestuft werden sollte, statt als eine abteilbare Fakultaet
erforscht und erklaert werden zu sollen.
Wir gehen also den Holzweg hinan. Ich sehe ihn sehr wohl,
denn meine Augen sind offen, mit seinen kleinen flachen Pfuetzen,
mit verteiltem Grasgestruepp, mit groszen und kleinen Steinen
bestueckt und zwei tiefen Fahrrinnen so breit, dasz sie die Spur
eines schwereren Lastwagen andeuten. Dasz alles sehe ich,
verstehe es, und benenne es doch nicht. Denke nicht weiter
darueber nach. Mein Bestreben ist den Schlamm in den Rinnen, die
Pfuetzen und die scharfen Steine zu vermeiden, und mit so
geringer Muehe wie moeglich bergauf zu steigen. Ganz sicher war
das was ich zur Zeit neben der Anstrengung des Steigens leistete,
ein Erkennen.
Ich will uebrigens, um der Wahrheit getreu zu bleiben, nicht
vorspiegeln, dasz ich diesen Aufstieg noch heute, am Tage danach,
in solchen Einzelheiten im Gedaechtnis habe. Es ist ja nicht das
erste Mal, dasz ich einen aehnlichen Holzweg betreten habe, und
meine Schilderung, so gut ich es jetzt noch weisz, ist durchaus
passend fuer jenen Aufstieg. Hinzufuegen sollte ich aber, dasz
dieser Aufstieg im ganzen nicht weniger als dreiviertel Stunden
gedauert haben musz. Nach meiner Uhr hatte ich nicht geschaut.
Die Landschaft wechselte. Wir gingen an Tannenplantagen vorbei,
der Weg wurde steiler, wendete sich in eine tunnel-artige Allee
zwischen hohen Eichenbaeumen, wurde bald flacher, bald steiler,
und muendete zuletzt in eine weite mit schon meter-hohen Tannen
bewachsene Lichtung.
Hier auf dem Ruecken des Berges, etwa ein bis zweihundert
Meter oberhalb des angrenzenden Gelaendes, eroeffnete sich ein
wunderbarer Blick in die Ferne, und nach allen Seiten. Breite
Taeler, von niedrigen Bergketten getrennt zogen sich nach Sueden
wo graublaue Huegel sich zum Horizont nebeneinander reihten; und
am westlichen Himmel verzog sich die Sonne hinter weiszgrauen
Wolken.
Nun, worin bestand die Erkenntnis?
Tatsaechlich war ich mir beim Aufstieg nur in so fern des
Holzweges bewuszt als ich es vermied ueber Steine zu stolpern,
oder in Pfuetzen zu tapfen. Ab und zu fielen mir reife
Brombeeren an stacheligen Bueschen am Wegrande in die Augen. Die
erkannte ich, die las ich von ihren dornigen Zweigen, genasz den
herb-suezlichen Geschmak, und zuckte, eh ich es gewahrte den
nackten Arm zurueck wenn die Dornen ihn anfielen. Das Biszchen
brennenden Schmerzes fuehlte ich erst spaeter.
Nun, worin bestand die Erkenntnis?
Sollte ich sagen, dasz ich den weg erkannte, weil ich ihn
verfolgte, oder nur seine Raender, seine Steine und seine
Pfuetzen die ich vermied. Und auch von diesen frage ich ob ich
sie erkannte, da ich, wenn ich so sagen darf, sie unbewuszt
gewaehrte. Auch an mich selber, an meine Subjektivitaet, an meine
Inwendigkeit, oder wenn es gesagt werden musz, an meine Seele
dachte ich nicht, oder nur dann wenn mir die brombeere im Mund
zerflosz, wenn ein Stachel mir die haut ritzte, oder wenn meine
siebzig Jahre alte Huefte sich mit einem scharfen Schmerz ueber
die Anstrengung beklagte. Und auch dann dachte ich wohl mehr an
die Brombeere, an den Stachel und an die Huefte als an das Ich
und die Seele.
Woran ich aber am meisten dachte, oder jedenfalls worauf ich
mich zu konzentrieren, worauf ich mich zu besinnen versuchte,
waren meine Erinnerungen von jenem Kapitel im dritten Band der
Philosophie der Symbolischen Formen wo die Grundlagen der
Mathematik und die Mengenlehre besprochen wurde. Ich sann nach
ueber den Begriff der Null Klasse, ueber die Wahl zwischen
intensiver und extensiver Bestimmung der Mengenlehre, und ueber
die Behauptung, dasz mathematische Symbole tatsaechlich nichts
mehr waeren denn Zeichen. Auf diese Gedanken hin stellte sich mir
brennend die Frage, ueber welche ich tatsaechlich versehentlich
in eine Pfuetze in der Fahrtrinne stolperte, welche
intellektuelle Tricks Lord Russell sich ausdenken moechte, wenn
er es darauf abgesehen haette seine Gefolgschaft mittels von
Taschenspielerei zum Besten haben wollte. Auch dabei dachte ich
nicht an mein ich oder an meine Seele.
Ich beschliesze (I conclude), dasz sich jedenfalls auf
dieser Wanderung keine bestimmte oder bestimmbare Gruppe von
Wahrnehmungen als Erkenntnis stiftend oder Erkenntnis verbuergend
hervor getan hat. In beschraenktem Sinne habe ich (dabei) nichts
als die Fahrtrinnen und Pfuetzen, als die Brombeeren und
Stacheln, als die erhabene Aussicht auf Taeler und entfernte
Huegel erkannt, sowohl als auch die Fragwuerdigkeit fuer mich der
Grundbegriffe der Mengellehre und der Metamathematik. Hierbei
ist zu betonen, dasz Erinnerungen, Ueberlegungen, Urteile nicht
weniger als die Beigaben der Sinne Ausschlag zu buendiger
(gueltiger) Erkenntnis zu geben vermoegen.
Ich bin mit offenen Augen und offenen Ohren gewandert, und
obgleich ich mir nur einer geringen Bruchzahl (a small fraction)
der Sinneseindruecke zur Zeit da sie mich befielen, bewuszt
geworden bin, so will ich sie dennoch Wahrnehmungen heiszen, denn
wer vermag vorauszusagen welche und wie viele von ihnen mir
spaeter im Gedaechtnis auftauchen werden, und wichtiger noch,
diese Sinneseindruecke, obgleich ich ihrer nicht gewahr, muessen
doch irgendwie mein Gemuet, oder sage mein Gehirn, gesteuert
haben, sonst waere ich ja nie auf dem Wege geblieben sondern
waere wie ein verlorener Blinder stolpernd im angrenzenden Walde
verunglueckt. Und wenn ich ungezaehlte unbewuszte
Sinneseindruecke als erkenntnisstiftende Wahrnehmungen zulasse,
wie kann ich dann umhin _alle_ Wahrnehmungen, die unbewuszten
ebenso wie die bewuszten als Erkenntniselemente anzuerkennen.
Ich stelle mir das Erkenntnisverfahren in folgender Weise
vor. Die Bilder welche auf die Netzhaut projiziert werden die
Laute welche die Ohrtrommel in Schwingung versetzen, werden alle,
ob hinterher bewuszt oder unbewuszt, mittels eines molekulaeren
Filters auf ihre Vorvorhandenheit in einem unbewuszten
Symbolenspeicher geprueft.
Solche Empfindungen welche einem visuellen oder akustischen
Vorbild gleichen oder auch nur aehneln, werden entsprechend den
ihr Vorbild erlaeuternden Informationen gedeutet; und das
Ergebnis dieser Deutung werden entsprechend dem gegenwaertigen
Bewusztseinspegel entweder im Bewusztsein dargestellt, oder aber
sie werden auf kuerzere oder laengere Zeit im Gedaechtnis
gespeichert, von wo sie verspaetet noch ins Bewusztsein abgerufen
werden koennen, bis zu dem Zeitpunkt, wo sie der Tenazitaet und
Kapazitaet des Gedaechtnisses entsprechend, endlich ausgeloescht
werden.
Solche Empfindungen hingegen welche einem visuellen oder
akustischen Vorbild in nur ungenuegendem Masze gleichen oder gar
nicht, werden samt hinzukommenden erlaeuternden Empfindungen in
neuen symbolhaften molekulaeren Konfigurationen gespeichert um
eventuell spaeter, wie andere gespeicherte Symboldaten zur
Identifizierung, Erlaeuterung und Erklaerung neuer Empfindungen
abgerufen zu werden.
So etwa meine Modellierung des Erkenntnisvorganges. Meine
Darstellung, wenn ich mich selber und meine Vorbilder recht
verstehe, ist durchaus mit der kant-cassirerschen
Symbolphilosophie vereinbar. Denn Kant hat gezeigt, dasz die
Bedingungen unserer Erkenntnisse, Eigenschaften unseres
Erkenntnisvermoegens sind. Cassirer hat hinzugefuegt, dasz diese
Eigenschaften unseres Erkenntnisvermoegens symbolhaft sind; und
dasz es eine unscheinbare Uebereinstimmung der Eigenschaften der
Symbole mit den Eigenschaften der sonst unerkannten und
unerkennbaren Wirklichkeit an sich ist, welche die wirksame
Erkenntnis ueberhaupt ermoeglicht. Was Kant nicht erklaerte, und
was auch aus Cassirers Ausfuehrung nicht hervorgeht, ist der
Ursprung der Korrespondenz der Symbole mit der Wirklichkeit an
Sich. Denn eine solche Korrespondenz ist Bedingung fuer die
Bedeutsamkeit der Symbole. Absent such correspondence, the
symbolic forms would necessaruly remain forever devoid of
meaning. Mein Beitrag zu dieser Problemstellung ist der Hinweis,
dasz es nicht nur moeglich, sondern dasz es durchaus
wahrscheinlich ist, dasz die Empfindungen sonst unbekannter
Gegenstaende auch unbewuszt eine Symbolbildung im Gemuet
verursachen; und dasz die Symbole, von den wirklichen und sonst
unerkannten und unerkennbaren Dingen an Sich tatsaechlich
hervorgerufen und gebildet, auf molekulaerer Ebene als
Erkenntnisvertreter der wirklichen Dinge fungieren. Diese
Symbolbildung anderweitig unbekannter Gegenstaende vollzieht sich
vornehmlich im Prozess des Lernens und hinterlaeszt im
Symbolspeicher ein verhaeltnismaeszig wirklichkeitsgetreues
Vorbild welches bei der naechsten passenden Gelegenheit zur
Deutung und Befestigung neuer Empfindungen herbeigezogen wird.
Das Bewusztwerden der Symbole mag man sich als eine weitere
(molekulaere) Eigenschaft der Symbole vorstellen, welche nur
manchmal, keineswegs durchweg, voraussagbar ist. Es sei bemerkt,
dasz eine biophysische Korrelation zwischen Symbolstruktur und
Bewusztsein die subjektive Einzelartigkeit des Bewusztseins,
seine Innerlichkeit, seine Seelenhaftigkeit keineswegs
beeintraechtigt. Man bedenke doch nur, dasz dieselbe
Subjektivitaet durch ein Lied, durch einen Chor, durch eine Arie,
also mittels durchweg objektiv darstellbarer Gebilde die den
Hoerer zu Traenen ruehren, erweckt werden kann; ohne dasz die
Objektivitaet des Reizes die Gueltigkeit dessen was es bewirkt in
irgendeiner Weise beeintraechtigt. Das freudenvolle Jauchzen,
die Traenen des Leides sind ja auch objektive Zeugnisse der
Innerlichkeit. Die Existenz eines molekulaeren Zeichens (marker)
an welcher die Inwendigkeit erkennt werden moechte hat keine
andere logische Bedeutung als das Jauchzen oder die Traenen
welche allenfalls seit den Zeiten des Koenigs David als legitime
Indices der Seelenhaftigkeit anerkannt sind.
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