20000816.00
Nach fuendfunddreiszig oder vierzig Jahren habe ich, von Cassir-
ers Erwaehnung des Buches angeregt, aufs neue einen Anfang mit
dem Lesen von Nicolai Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis
gemacht.
Es ist zugleich nuetzlich und erbaulich, daran erinnert zu
werden, dasz dem Erkenntniserlebnis nach allen logischen und
psychologischen Ausfuehrunegn ein unerklaerbarer Rest des
Irrationalen anhaftet, ein Rest den Hartmann, sehr treffend, wie
mir scheint, als Metaphysisch bezeichnet.
Wenn Unerklaerliche ein Merkmal (badge) des Metaphysischen
ist, waere es moeglich ein Unerklaerliches vom Naechsten zu
unterscheiden, warum sollte dann nicht jedes Unerklaerliche,
jeder Widerspruchr als metaphysisch gelten, oder jedenfalls als
Bruecke ins Gebiet der Metaphysik? Mueszten vielleicht dann
insofern sie im Schatten des Widerspruchs verlaufen, all unsere
Gedanken, allenfalls all unsere Versuche das Erkenntniserleben zu
entwirren metaphysisch geheiszen werden: denn sie sind ja alle
Ausdruck eines Rationalisierungsversuches welcher in sofern
scheitert als er je mehr er fortschreitet, desto mehr
Irrationales aufdeckt? Befindet sich also vielleicht all unser
Denken im Bereiche der Metaphysik? Oder anders ausgedrueckt, ist
vielleicht "metaphysisch" das passendste Kennzeichen die
passendste Beschreibung fuer all unserr Denken sobald es seine
eigenen Grenzen erkennt und ueber diese hinausstrebt?
Bei all diesen Erlaeuterungen erinnere ich mich der
Feststellung zu welcher mich das Lesen in Cassirers Buechern,
noch mehr aber in Nicolai Hartmanns bewegt hat, naemlich dasz das
philosophische Werk, wenn man mit ihm zurande kommen will, als
eine Art Dichtung verstanden werden kann, ja verstanden werden
musz; Dichtung in dem Sinne dasz es ein Wortgewebe sei, dessen
Gueltigkeit darin besteht, dasz es wie eine Art Muster (pattern)
oder wie ein stark vereinfachendes Modell unserem
Wirklichkeitserleben entspricht; ein erfundenes (contrived)
begriffliches Gitterwerk an welchem sich unser Erleben entwickelt
und entfaltet.
Die Kernfrage um welche sich das Denken dreht erscheint dann
als die Frage, als die Unbestimmtheit, mittels welcher
Geistesuebungen das Denken das Irrationale rationalisiert, das
Unbegreifliche begreift; wie es sich mit seinen Begrenzungen
abfindet.
Es ist die Eigenart der Wissenschaft, dasz sie mit dem
Irrationalen fertig wird, (that it comes to terms with the
irrational by denying it) indem sie das Irrationale verneint
(verleugnet). Es ist die Eigenart der Dichtung, dasz sie mit dem
Irrationalen fertig wird, (that it comes to terms with the
irrational by exalting it) indem sie das Irrationale feiert.
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