20001229.00
Was bedeutet nun dies, darauf hinzuweisen, dasz das
Verschwinden eines Gegenstandes das Urerlebnis des Punktes ist:
Oertlichkeit ohne Ausdehnung; dasz die Grenze eines entfernten
Gegenstandes das Urerlebnis der Linie ist: qualitaetsfreie
Definition; dasz das Zaehlen eine sprachlich-begriffliche
Ausdehnung des Gedaechtnisses ist: die Erstreckung eines Menschen
Kontrolle ueber die Vielfaeltigkeit seiner Welt. Im Englischen
die Doppelbedeutung des Ausdrucks to tell, zu zaehlen und zu
erzaehlen; die enge Verwandtschaft dieser Begriffe im Deutschen.
Vernutlich (voraussichtlich) werden die Begriffe der
Unendlichkeit und der Grenze, die Infinitesimalrechnung und
Integralrechnung weitere Verwandschaften mit den Eigenarten des
Denkens und den Eigentuemlichkeiten des Erlebens aufweisen.
Darueber hinaus ist zu bedenken der Zwang welche die
willkuerliche Zeichensetzung (Symbolsetzung) und die
willkuerliche Definition und Deutung dieser Zeichen auf den Geist
des Menschen ausuebt. Er dressiert sich, oder laeszt sich
dressieren die mathematische Symbolik samt ihrer rechnerischen
Verschiebungen zu verinnerlichen und zu verselbststaendigen, als
selbstverstaendlich, fraglos, jenseits allen Zweifelns anzunehmen
und zu vertreten. Das Erlernen der Mathematik hat eine gewisse
Aehnlichkeit mit dem Erlernen einer (fremden) Sprache.
Tatsaechlich ist das Verhaltnis zur Mathematik streng
vergleichbar mit dem Verhaeltnis zur Muttersprache; zu beachten
der Unterschied, dasz das Erlernen einer Fremdsprache die
Muttersprache relativisiert, waehrend die Mathematik nichts mit
der Fremdsprache vergleichbares kennt. Umso schwieriger ist es,
aber in der letzten Instanz unumgaenglich, betraechtliche Teile
der Mathematik als gesellschaftsgebunden und
gesellschaftsbegruendet zu betrachten.
Die Mathematik hat zwei Quellen ihrer Wirksamkeit
aufzuweisen: Die eine Quelle ist die geistige Koordinierung im
Rahmen der Gesellschaft der Gedanken-Vorstellungen und Handlungen
welche die Mathematik bewirkt. Sobald man sich ihrer bewuszt
wird erscheint diese Quelle als offenbar fast als
selbstverstaendlich.
Die andere Quelle, die andere Begruendung der Gueltigkeit
und Wirksamkeit der Mathematik ist schwieriger zu fassen.
Angedeutet wird sie in der Beschreibung des verschwindenden
Gegenstandes als Punkt. Ob dieser verschwindende Gegenstand in
der Wirklichkeit, in der Phantasie, in der Einbildung, oder gar
im Rausch, im Traume wahrgenommen wird, ist gleichgueltig.
Wesentlich ist das Verhaeltnis des mathematischen Begriffes zum
sinnlichen (anschaulichen) Erleben. So erklaert sich das Rechnen
mit Punkten (und Linien) als Ausbau (Erweiterung) des Erlebnisses
der reinen Gegenstaendlichkeit. Das Zaehlen als Erweiterung
(Ausbau) der Erinnerung als der Wiederholung und Zusammenfassung
des wahrgenommenen Gegenstandes; wiederum die Bezeichnung der
reinen Gegenstaendlichkeit des Gezaehlten.
Die Schnittstelle (interface) von Mensch und Natur, von Ich
und Welt ist immer schwer und oft un-bestimmbar. Im eigentlichen
Sinne ist der Mensch ein Teil der Natur, ist voellig in sie
eingebttet, nicht nur in seinen Sinnesempfindungen nicht nur in
seiner geistigen Behandlung aeuszerer Dinge, sondern nicht
zuletzt in seiner Gesellschaft in seiner Gesellschaftlichkeit.
Der Zwang welchen die Gesellschaft auf ihn ausuebt ist nicht
geringer als der Zwang der Naturkraefte, der Hitze, Kaelte, der
Schwere; mit dem Unterschied aber, dasz der Mensch sich mit
seiner Gesellschaft identifiziert, dasz er sich mit ihr
gleichstellt, dasz er sie als von seinem Willen einfluszbar
betrachtet; dasz er sie wie eine ihm bekannte Person behandelt,
dasz er sein Ich, sein selbst in ihr wiedergespiegelt erkennt,
und dies in einem solchen Masze, dasz er bestaendig in Gefahr
ist, sein Ich mit dem Ich, mit dem Geist der Gesellschaft zu
verwechseln. So etwa betrachtet er die gemeinsame ihn in seine
Gesellschaft bindende Sprache als ein Ausdruck seiner selbst, als
Ausdruck seines eigenen Ich.
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