20020102.00

     Der vermeinte Vorrang der sogenannten mathematischen
Wissenschaften, oder genauer gesagt, der mathematisierten
Wissenschaften entspricht keineswegs einem Anspruch auf
triftigere Wahrheit, oder einem Anspruch auf gueltigere
Uebereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit.  Der Vorrang der
mathematisierten Wissenschaften hat eine gesellschaftliche
Erklaerung.  Der Vorrang der mathematisierten Wissenschaften
widerspiegelt ein weit hoeheres Mass der Mitteilbarkeit und der
Zuverlaessigkeit des mitgeteilten Wissens in den mathematisierten
Wissenschaften als in jenen anderen Wissenschaften, deren
Mitteilbarkeit lediglich auf Sprache beruht.  Mit der
Unzuverlaessigkeit der Sprache ist jedermann vertraut.  "Was
meinst du damit?" "Was soll das bedeuten?"  sind Fragen welche
sich bei jedem ernst zunehmenden sprachlichen Gedankenaustausch
stellen, und welche unausgesprochen fast jedes Gespraech
begleiten.

     In der Mathematik haben dergleichen Fragen wenn ueberhaupt,
eine viel beschraenktere Rolle.  Der Sinn der mathematischen
Symbole liegt in den Berechnungen welche sie andeuten und zu
welchen sie Ausschlag geben: und die Bedeutung dieser
Berechnungen ist durch Einuebung vorbestimmt, und sind somit der
Unbestimmtheit der Deutung, der Auslegung und der Anwendung
welche die nicht-mathematischen Wissenschaften bezeichnen,
enthoben.  Es ist aber offensichtlich, dass die Verlaesslichkeit
und Gueltigkeit der mathematisierten Wissenschaften lediglich der
Rechnung gilt, nicht aber dem was berechnet wird.  Man sieht
auch, wie zum Beispiel bei Wahrscheinlichkeitsrechnung und
Statistik, dass ungeachtet ihrer Unzweideutigkeit, und vielleicht
sogar deretwegen, die mathematische Formelsprache die groebsten
Fehler und die groessten Unbestimmtheiten mit dem Mantel der
Selbstverstaendlichkeit der eindeutigen Zahl, des eindeutigen
Symbols, zu verdecken vermag.

     Wenn die Eindeutigkeit der mathematischen Wissenschaften auf
der seelisch-gesellschaftlichen Beschaffenheit der Mathematik
beruht, so besagt Eindeutigkeit keineswegs Wahrheit, was immer
man als Wahrheit bezeichnen moechte.  Die eindeutigste Tatsache
kann unwahr sein.  Der Wahrheitsgehalt der mathematisierten
Wissenschaften entspringt den gleichen Quellen wie der
Wahrheitsgehalt der nichtmathematischen, der sogenannten
empirischen Wissenschaften. Diese Quellen sind das Erleben des
einzelnen Menschen und die Erfahrung der Gesellschaft.  So ist es
nicht von der Analyse der Mathematik sondern von der Beschreibung
und Beobachtung des Erlebens und der Erfahrung, der
Mitteilbarkeit und der Mitteilung, dass wir Aufklaerung ueber die
Art und ueber das Wesen des Wissens zu erhoffen haben.

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