20020223.01

     Wenn ich das Rechtswesen dieses Landes betrachte, bedenke,
so vermag ich mich nicht der Ueberzeugung zu entledigen, dass es
ein biologischer Urtrieb der menschlichen Gesellschaft ist,
welche den Sonderling, den Besonderen, den Einzelgaenger, den
sich nicht Einfuegenden (bezeichnend, dass es im Deutschen keinen
gemaesse Uebersetzung fuer Non-conformist gibt) bestraft, ihn
ausstoesst, einsperrt oder umbringt.  Zugleich aber ist es das
Beduerfnis des Menschen geistig und seelsich unabhaengig, eine
Einzelner zu sein, und der geistige Fortschritt, die
intellektuelle Entwicklung der Menschheit, haengt von der
Unabhaengigkeit des Einzelnen ab.  Viele grosse Entdeckungen und
Erfindungen, viele neue Gedanken, sind Errungenschaften des
Einzelnen.  Der Mensch moechte sich von der Gesellschaft
zurueckziehen um sein eigenes Leben zu leben, und unabhaengig
(vor seinem Gott) von der Gesellschaft zu sein.

     Der Tod des Sokrates und die Kreuzigung Jesu scheinen mir
Monumente, Denk- und Mahnmale dieses Konfliktes, dieser Spannung
zwischen der Gesellschaft und dem Individuum zu sein.  Denn man
brachte Sokrates um, nicht weil er dieses oder jenes verbrochen
hatte, sondern weil er sich nicht in die oeffentliche Geistigkeit
einfuegen wollte oder konnte; und dass man ihn umbrachte deutet
auf die wesentliche Rolle welche zu jener Zeit die oeffentliche
Geistigkeit im athenischen Leben spielte.  Heut zu tage wuerde
man Sokrates am Leben lassen, weil der Oeffentlichkeit Sachen des
Geistes voellig gleichgueltig sind.

     Ergreifender aber noch ist die Kreuzigung. Jesus kam in den
Bereich des kommunalen, des gemeinschaftlichen Geistigen, und
schien dieses zu gunsten einer individuellen, persoenlichen
subjektiven Beziehung zu Gott zerstoeren zu wollen.  Diese
Beziehung wurde offenbar daran, dass Jesus sich als Gottes Sohn
bezeichnete. Jesus hat die allgemeine aeusserliche objektive
Religiositaet mit einer spezifisch individuellen subjektiven
Religiositaet ersetzt. Diese Subversion des Allgemeinen hat man
ihm nicht vergeben, und zur Strafe hat man ihn gekreuzigt.  Die
Anziehung des Christentums liegt in der Individualisierung des
menschlichen Erlebens, welche es fordert und foerdert. Jesus is
der Inbegriff des Einzelgaengers der sich nicht einfuegen kann
oder will. So auch seine Bedeutung fuer die Entwicklung des
westlichen Geistes.

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