20020227.00

     Wenn die Wahrheit, die Wahrheit die mich erbaut, die
Wahrheit fuer mich ist, dann ist das Gute, das Gute das mich
erbaut, das Gute fuer mich.  Wenn das Gute, das Ethische, das was
mir zu tun und lassen geboten ist, das Gute oder Ethische fuer
mich ist, im Gegensatz zu jener Moral welche die Gesellschaft von
mir fordert, wie verhalte ich mich dann aber zu der Moral, zu dem
Ethischen, zu all jenen Handlungsforderungen welche so
unverkennbar ihren Ursprung und ihren Sitz in der Gesellschaft,
in dem Zusammenleben mit und in der Abhaengigkeit von anderen
Menschen haben? Wo liegt das Recht?  Wo liegt das Unrecht? Wo ist
Tugend? Wo ist das Gottgefaellige, Wo ist die Suende?  Wo ist die
Erbsuende?  Gibt es eine Suende welche mit dem tierischen
(biologischen) Leben von Geschlecht zu Geschlecht wie eine
ererbte Krankheit ueberliefert wird?  Wenn das Gute ein
subjektives Gut, das Gute fuer mich ist, waere dann die Erbsuende
die Tatsache der gesellschaftlichen Beziehung, bezw.
Abhaengigkeit? Wenn das Gute ein objektives Gut, Wenn das Gute
Mores und Ethos ist, gesellschaftlich bestimmt, waere dann nicht
ausgerechnet die Innerlichkeit, die Subjektivitaet, waere dann
nicht der notwendige Verlass auf das eigene Gewissen als
Erbsuende zu erkennen?  Oder waere die Erbsuende keines von
beiden, weder Individualitaet noch Ethos, waere die Erbsuende
lediglich die Tatsache, dass Individualitaet und Ethos nicht mit
einander uebereinstimmen, und nimmer mit einander werden
uebereinstimmen koennen? Waere der Erbsuende Verderblichkeit,
dass Ethos und Individualitaet mit einander fehden, den einzelnen
Buerger in der Mitte, den sie zermuerben, zerknirschen oder
zerreissen?

     Und die Angst? Sollte Kierkegaard recht haben, wenn er die
Angst mit der Erbsuende in Verbindung setzt? Ist nicht die
urspruengliche Angst die Trennungsangst von der Mutter, die Angst
vor dem Alleinsein?  Entwickelt sich nicht diese in die Angst
gesellschaftliches Missfallen zu erregen, und auf Grund dieses
Missfallens von der Gesellschaft bestraft, von ihr ausgestossen
zu werden, hinfort in foermlicher oder tatsaechlicher Einzelhaft
(solitary confinement) allein zu leben?  Ist nicht alle Angst die
Angst vor der Einsamkeit?

     Wie verhaelt sich der Mensch zu der entsetzlichen
Unvereinbarkeit seines (inwendigen) Gotteserlebnisses mit dem
Ethos der Gesellschaft?  Wird er Untertan, wie Erasmus, oder
Rebelle, wie Luther?  Aber auch in deren Fallen scheinen beide
Haltungen nur voruebergehend, denn Luther gruendete ja
bekanntlich alsbald seine eigene Familie und dann seine eigene
religioese Gesellschaft, und Erasmusens Innerlichkeit ist allein
schon durch die Tatsache seiner schriftstellerischen Taetigkeit
bezeugt.

     Wenn meine Vermutung stichhaltig ist, dann ist die
eigentliche Angst nicht die Angst vor dem Tode, nicht die
Todesangst, sondern die Angst vor dem Vater, die Angst vor dem
Zorn des Herrn, die Angst vor dem richterlichen Urteil, die Angst
vor der Strafe, vor der Verbannung, vor der Ausweisung aus der
Gesellschaft. Und nur der Tod, als Strafe oder anderweitig waere
dann die einzige und die entgueltige Erloesung von der Angst.

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