20020228.00

     Die vorgehenden Ueberlegungen ueber den Widerspruch von Ich
und Gesellschaft als Ursache der Erbsuende sind fehlerhaft
insofern die Urfabel - und so muss man sie in aller Redlichkeit
bezeichnen, zu einer solchen Deutung nur beschraenkten Anlass
gibt, insofern als die einfache Uebertretung des Gebotes des
Herrn eine anspruchslosere Deutung zulaesst, welche die Erbsuende
schlicht als Ungehorsam bezeichnet.  Es hat der Paradiesesfabel
vom Suendenfall an Auslegungen nie gemangelt; alle Beschwerden,
alle Unzulaenglichkeiten, alle Schwaechen und Schmerzen des
menschlichen Daseins vermoegen auf sie zurueckgefuehrt zu werden.

     Es ist aber das Wesen der Sprache, der Geschichte, und der
Dichtung, der Fabel ins besondere, dass ihr Sinn, wie ich schon
oft genug ausgefuehrt habe, nur in geringem Masse, oder
ueberhaupt nicht, von der Absicht, vom Vorhaben des Verfassers
zeugt, sondern in weit hoeherem Masse von den Erlebnissen, vom
Verstaendnis, und von den Absichten des Empfaengers, der die
Fabel versteht oder missversteht, der sich an ihr erbaut oder der
sich an ihr aergert, des Lesers oder des Hoerers der die Fabel
begreifen muss, ehe sie sinnvoll wird. Und in dieser Hinsicht war
die Deutung des Suendenfalles als Vergesellschaftungskrise wohl
nicht verfehlt,

     Ich beabsichtige also mich der Suendenfallsfabel zu bedienen
als ein Geruest fuer die Darstellung des Gesellschaftproblems -
oder des Individualisierungs- problems, wie immer man es zu
betonen wuenscht. Die Angst aber welche, so Kierkegaard, auf die
Leugnung der Suende, auf die Leugnung der Unzulaenglichkeit
folgt, ist, um den medizinischen Fachausdruck zu benutzen, nicht
spezifisch, Die Angst kommt in Folge jeder unerkannten,
uneingestandenen gefaehrlichen und gefaehrdenden
Unzulaenglichkeit des Menschen; und die Angst wiederum
verfluechtigt sich durch Bekenntnis, durch das Eingestaendnis der
Unzulaenglichkeit, durch die Einsicht, durch die Reue, durch die
Busse.  All dieses zuweilen hektisch erscheinende Ausloeschen der
Schuld durch Bekenntnis ist aber zugleich ein Ausloeschen
(expurgation) der Schuld durch Erkenntnis; und das Argument, der
Gedankenkreis, ist somit zurueck gefuehrt zu der sokratischen
Einsicht, dass die Erkenntnis des Problems zugleich dessen
Loesung ist, dessen Loesung insofern jedenfalls es eine Loesung
ueberhaupt gibt.

     Mit dieser Behauptung nun, habe ich mir die venia legendi
erworben zu erwaegen inwieweit es vernuenftig ist, vorzuschlagen,
dass der Urgrund der Erbsuende die zweideutig doppelte Natur des
Menschen als Einzelner und als Buerger, als Individuum und als
Gesellschaftsmitglied ist.

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