20020301.00

     Wer an Schmerzen leidet, der weint oder klagt oder schreit.
Wenn aber einer ein Buch ueber den Begriff des Schmerzes
verfasst, dann muss man ihn fragen in welchem Masse er den
Schmerz ueber welchen er schreibt selbst empfindet oder selbst
empfunden hat.  Es ist auch vorstellbar, dass der Schmerz so
gross war, dass kein Klagen, Weinen oder Schreien ihm gemaess
sein konnte.  Ob in einem solchen Falle eine theoretische
Untersuchung ueber den Schmerz groessere Linderung schaffen
moechte, muss dahingestellt bleiben. Moeglich ist es zwar.  Es
muss auch dahingestellt bleiben ob der Verfasser von einem
Schmerz schreibt den er selbst empfunden hat.  Das vermag aus der
Ueberschrift jedenfalls nicht festgestellt zu werden; der Inhalt
der Schrift mag sich darueber aufschlussreicher erweisen.
Kierkegaards Abhandlung ueber den Begriff Angst ist fuer diese
Fragen beispielhaft.

     Schon der Versuch das Wort Angst ins Englische zu
uebersetzen weist auf die Problematik einer Erklaerung. Der
Ausdruck "dread" kommt wohl am naechsten; und doch waltet das
englische Wort ueber ein anderes Bedeutungsspektrum. Denn so
selbstverstaendlich es im Deutschen ist zu sagen: "Ich habe
Angst", so unnatuerlich klaenge es im Englischen, wenn man sagte:
"I have dread." Denn dread weist vor allem auf das wovor man sich
aengstigt; waehrend Angst sich auf das Individuum bezieht welches
die Angst erlebt. Es ist demgemaess ueberzeugend genug, wenn
Kierkegaard die Angst auf eine Beschaffenheit des geaengstigten
Menschen, auf eine Beschaffenheit des Menschen im allgemeinen
zurueckfuehrt.  Diese angstausloesende Beschaffenheit setzt er
der Erbsuende gleich eben darum, weil die Angst so wie die
Erbsuende das ganze menschliche Geschlecht belastet. Die Analyse
und Beschreibung dieser Last ist die unvermeidliche Folge der
Einsicht dass diese Last besteht.

     Ich koennte mir keinen passenderen Uebersetzer ins Deutsche
von Kierkegaards Begrebet Angest vorstellen als Emanuel Hirsch;
denn dieser muss ein Mensch gewesen sein, der nicht nur die Angst
gespuert hat, sondern sein Leben hat von ihr bestimmen lassen,
indem er - aus Angst - warum sonst, der Nazi-SS beitrat, und ein
fuehrendes Licht der sogenannten Deutschen Christen wurde. So
behielt er seine Goettinger Theologenprofessur bis zum Ende des
Krieges; und dann wurde er alt und starb bald danach. Wenn man im
Zusammenhang mit Emanuel Hirsch auch an den sich opfernden
Dietrich Bonhoeffer oder auch nur and den ueberlebenden Martin
Niemoeller denkt, dann faellt es einem ein, dass es, jedenfalls
in historischer Sicht, ein Gegenmittel fuer die Angst gibt,
naemlich die Tapferkeit, die Courage. Inwiefern die scheinbare
Tapferkeit nur ein Mangel an Angst ist, moeglicherweise aus
Dummheit oder Unempfindlichkeit, und inwiefern die Tapferkeit die
Angst tatsaechlich aufhebt, oder ob es so etwas ist, wie Geist
oder Glaube oder Gnade das Tapferkeit einfloesst oder anderweitig
die Angst beseitigt liesse sich laenger diskutieren.

     Es gibt eine Angst vor dem Leiden und es gibt eine andere
Angst vor dem Tod.  Die beiden Aengste sind unterschiedlich, denn
es ist nicht selten, dass sie sich widersprechen, dass ein Mensch
behauptet nur vor dem Leiden nicht aber vor dem Tode Angst zu
spueren.  Ob er sich taeuscht weiss ich nicht.  Doch weiss ich,
dass es moeglich ist Angst vor dem Leben, Angst vor dem
Nichtsterben zu haben, gerade weil das Leiden ein Leiden am Leben
ist, und insofern das Leben das Leiden verursacht, indessen der
Tod von den Menschen vom Leiden des Lebens erloest.  Angst vor
dem Tode aber waere Angst um das Leben, waere Angst das Leben zu
verlieren, oder aber es waere Angst vor dem was dem Menschen nach
dem Tode begegnen moechte, an jenen Orten wo sich "Phantasie zu
eigner Qual verdammt."

     Sich aengstigen ist Ausdruck einer Anlage im menschlichen
Wesen.  Wenn man Angst einen Ausdruck menschlicher
Unzulaenglichkeit nennt, und zugleich Ausdruck der Suende, dann
ware die Suende eine Unzulaenglichkeit des Menschen.  Das ist
eine Gleichung welche sich reimt.  Aber diese Unzulaenglichkeit
naeher bestimmen sollte man doch.  Da sind aufzuzaehlen, die
Schwaeche des Geistes, die Krankhaftigkeit des Koerpers, der
vermeintliche Riss zwischen Koerper und Seele. Die Bedeutung
welche der Inwendigkeit, der Subjektivitaet im Gegensatz zu der
Aeusserlichkeit, der Objektivitaet zugeschrieben wird, und die
Tatsache dass die geistige Welt im allgemeinen und die Sprache
ins besondere Erscheinungen menschlicher Gemeinschaft sind,
verleiten zu der Vermutung, dass es die Unvereinbarkeit von
Subjektivitaet und Objektivitaet, von Ich und Gesellschaft, von
Inwendigkeit und Auswendigkeit sein mag, welche, jedenfalls zum
Teil der Unzulaenglichkeit des menschlichen Daseins zugrunde
liegt, dass diese Unfaehigkeit, einerseits allein zu sein, und
andererseits sich in der Gesellschaft aufzugeben, dass diese
Unfaehigkeit die Ursache unserer Angst ist, und diese
Beschaffenheit ihr Ursprung.

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