20020319.00
Um mit dem kierkegaardschen Denken zurande zu kommen, ist es
notwendig, oder zu mindestens nuetzlich (hilfreich helpful) sich
eine Skizze der Begrenzungen seines Denkens, des Umkreises
(Perimeter) seiner Begriffswelt vorzulegen. Dies braucht
keineswegs ein hochmuetiges Unternehmen zu sein. Man man mag in
aller Demut, sich seiner eigenen Beshcraenkungen so bewusst als
moeglich, Ueberlegungen anstellen ueber die Gebiete welche
Kierkegaards Denken verschlossen geblieben sind. Man darf auch
die Begrenzung des Gedankenbaus keineswegs nur als Mangel
betrachten eingedenk der Tatsache, dass alles Gestaltete, alles
Geformte, in seiner Begrenzung besteht, und in Abwesenheit dieser
Begrenzung sich verfluechtigt und zerstiebt.
Ich wuesste nicht dass die Begrenzungen des kierkegaardschen
Denkens in irgend einer spezifischen Reihenfolge oder Ordnung
dargestellt werden sollten. So oft ich dieses Thema bedenke
bietet es sich mir in einer neuen Sicht.
Es ist ein erhabener Narzissmus der in dem unbedingten
absoluten Interesse an der eigenen Existenz und in der
pathetischen Bekuemmernis um die eigene ewige Seligkeit zum
Ausdruck kommt. Die christliche Religion bezeichnet zwar, in
widerspruechlicher, und vielleicht widernatuerlicher (perverser)
Weise die selbstlose (agapische) Liebe zum Naechsten zur Pflicht,
und die eigennuetzige erotische Liebe zum Naechsten als Suende;
aber der Neigung und Not sich geistig und koerperlich mit dem
Naechsten zu verbinden, und eine Gemeinschaft mit ihm zu werden,
wird weder das Christentum noch Kierkegaard als sein Prophet,
gerecht. Diese Beschraenktheit betreffs der Vergesellschaftung
scheint mir das kierkegaardsche Opus zu durchdringen, vom
aufschliessenden Entweder Oder zum abschliessenden Augenblick in
welchem er sein Verhaeltnis zur Kirche in dialektischer Weise
offenbart. Ueberall ist Leiden, aber Liebe ist nirgends. Das
Leidens ueberall bekundet, wird kaum beschrieben; die Werke der
Liebe werden zwar ausfuehrlich genannt, es fehlt aber jegliches
Anzeichen einer Kraft sie zu verwirklichen. Vielleicht ist mein
Urteil voreilig; ich sollte vielleicht "Der Liebe Tun" ein
weiteres Mal lesen, eh ich fortfahre mich ueber dies Thema
auszulassen. Dass dem Entweder Oder an wirksamer Liebe ermangelt,
scheint mir unleugbar. Der erste Teil ziert sich geradezu mit
seiner Lieblosigkeit, und der zweite Teil beansprucht nicht die
ethische sondern die aesthetische Gueltigkeit der Ehe
vorzufuehren.
Und diese Gegenueberstellung des Aesthetischen mit dem
Ethischen, voellig im Geiste Kierkegaards, deutet auf eine
weitere Begrenztheit seines Schrifttums. Ich meine die Scholastik
welche Begriffen wie Aesthetik, Ethik, Dogmatik, und dergleichen
viele mehr, anhaftet. Die Scholastik aber ist ein Bund zwischen
Kierkegaard und Hegel ungeachtet der so betonten Ablehnung. Jene
Eigenschaften des hegelschen Denkens welche zeitgenoessisch
verankert waren, oder welche sich im zeitgenoessischen Denken
verwurzelt hatten, vermochte auch Kierkegaard nicht zu entbehren,
weil er sich nur mittels ihrer zu verstaendigen vermochte. Es ist
bemerkenswert, dass wie laut und aufgeregt Kierkegaard auch gegen
Hegel wettert, es ihm dennoch unmoeglich ist, insofern er seine
Theorien im Gegensatz zu seinem Erleben verstaendlich machen
will, sich Hegelsche Kategorien, Hegels Vorstellung vom
dialektischen Vorgang entbehren, und sich anders als in
Hegelschen Formeln auszudruecken.
Ich bin mir bewusst, dass auch ich einer solchen Scholastik
nicht zu entrinnen vermag: indessen es das ganze Bestreben der
schriftstellerischen Taetigkeit ist, die Scholastik zu vermeiden,
oder, wo sie unumgehbar ist, so glimpflich als moeglich ausarten
zu lassen. Kierkegaards Verdienst moechte es sein nicht die
(hegelsche) Scholastik ueberwunden oder widerlegt zu haben,
sondern ganz einfach darauf hingewiesen zu haben, dass es auch
ausserhalb dieser Scholastik gueltiges und wahrhaftiges Denken
und Erleben gibt, obgleich er es nicht vermochte sich im Inhalt
oder in der Form seiner Ausfuehrungen von hegelscher Scholastik
zu befreien.
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