20020328.00
Gestern abend habe ich in einem kleinen zerschlissenen Heft
in der Sammlung Goeschen, mit der Anschrift "Grundfragen der
Soziologie" von Georg Simmel gelesen. Das Papier ist braun und
bruechig, und auf dem Titelblatt steht quasi als Entschuldigung
"Kriegseinband". Es wurde 1917 gedruckt.
Simmels Anliegen ist das Gebiet der Soziologie als einen
selbst- staendigen und selbstgenuegsamen Bereich der
Geisteswissenschaftenr abzustecken. Und dies gelingt ihm,
insofern man seine Voraussetzungen der Gegenstaendlichkeit des
gesellschaftlichen Lebens akzeptiert. Doch in diesem
wissenschaftlichen Realismus liegt das verfaengliche. Denn die
Annahme das unsere Begriffe einer (erlebbaren) Wirklichkeit
entsprechen laesst sich nur heuristisch erklaeren und
rechtfertigen. In bezug zu meinem Verstaendnis, bleibt es eine
Annahme welche sich nur in meinem Denken, niemals aber in meinem
unmittelbaren Erleben bestaetigen laesst. Vergleichbares laesst
sich auch von den Darwin-Mayrschen Evolutionslehren feststellen.
Die entscheidenden Fragen bleiben stets die gleichen: worin
besteht, und wie bestimmt man die Gueltigkeit des begrifflich
Erkannten, und unter welchen Bedingungen bewaehrt sich dies
begrifflich vermeint Erkannte im individuellen Bewusstsein der
Gegenwart. Ich komme wieder auf eine fruehere These zurueck:
dassdas Erleben den Menschen verwandelt,r nicht nur das
koerperliche, sondern auch das geistige; auch der Gedanker
verwandelt das Gemuet. Ich erinnere an das Phaenomen der
Amblyhopia ex anopsia, an das Erlernen einer neuen Sprache, an
das Lernen des Musizierens, an die Dressur ueberhaupt.
Die Erziehung, die Paidedia, die Umbildung des Geistes ist
es welche die Erkenntnis erklaert. Es gibt keine praestabilierte
Harmonie zwischen Wirklichkeit und Gemuet, aber das Gemuet wird
fcortwaehrend geformt und verwandelt (fashioned and modified) von
den sinnlichen und geistigen,r gedanklichen Einfluessen die es
belasten. Der Erziehungsstoff ist aber nur zum Teil gueltig, denn
dem menschlichen Wissen haftet das experimentelle, das
versuchsmaessige an, und dieses ist unvermeidlicher Weise gueltig
nur zum Teil, zum Teil aber fehlerhaft.
Es ist schicksalshaft, dass anerzogene Eigenschaften nicht
vererbt werden. Aber die Aufnahmefaehigkeit, die
Empfaenglichkeit fuer Anerzogenes sollte erblich sein.
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