20020514.04
Dank fuer die beiden Briefe. Dank fuer die Postkarten mit
den romanischen Krypten und den puppenhaften
Madonnenholzschnitten. An den Holzschnitten faellt mir auf, in
welchem Masse die bildliche Anschauung von dogmatischen Begriffen
beherrscht wird. Sie scheinen mir die Worte Schillers, "Es ist
der Geist der sich den Koerper baut." zu bestaetigen. Ich bin
aber in Kunstgeschichte zu wenig bewandert um mehr darueber sagen
zu koennen.
Was die Bilder der Krypten anlangt, so bin ich von ihnen
beeindruckt, zugleich aber nicht wenig geaengstigt. Sie wecken
meine Klaustrophobie - vergebens suche ich dies Wort im Lexikon,
aber es muss es doch geben, - und sie stimmen mich dankbar nicht
genoetigt zu sein, Jahre, Wochen, oder auch mehr als nur ein paar
Minuten dort verbringen zu muessen.
Das ist eine Betrachtungsweise zu welche mich auch die
Bewunderung der von mir so geliebten romanischen Kirchen anregt,
dass ich dankbar bin niemals genoetigt gewesen zu sein dort als
Gemeindemitglied die Predigten ueber mich ergehen zu lassen,
oder, Gott bewahre, dort als Moench oder als Priester zu wirken,
dass mir die Messen und die Beichten, die Glaubensbekenntnisse,
der Weihrauch, die Kerzen, die Reliquien, die Kruzifixe und alles
andere Drum und Dran der Religion erspart geblieben ist. Mit
welchem Recht aber darf ich dann, wenn ich so denke und fuehle,
die Denkmaeler die dieser Lebensform gebaut sind bewundern oder
gar lieb haben? Ist denn bei einer solche ablehnenden
Einstellung meine liebensvolle Bewunderung ueberhaupt ernst zu
nehmen?
Vergleichbar geht es mit mit den Fachwerkhaeusern in den
engen Gassen wie etwa des zerstoerten Braunschweig meiner
Erinnerungen oder des erhaltenen Goslar. Bei allem aesthetischen
Reiz mit welchem sie mir das heimatliche Stadtbild schmuecken,
wie bedrueckend muesste es nicht sein, in so engen Verhaeltnissen
zu hausen?
Fuer die aesthetische Bewertung der alten Kirchen so wie
auch der Fachwerkhauser, fuer den aesthetischen Genuss der in
psychologischem Sinne antiken Architektur weiss ich schon eine
Erklaerung vorzuschlagen, ob richtig oder falsch, koennte ich
nicht sagen. Das Alter, die hohe Vergangenheit zusammen mit der
stilstischen Einfoermigkeit, scheinen mir diese Bauten in
virtuelle Natur zu verwandeln, das heisst in von gegenwaertigem
Menschentum unabhaengige Erscheinungen welche nicht unaehnlich
der Natur, gewissermassen allem gegenwaertigen Menschentum
trotzen, infolgedessen mich die Altstadt und der alten Dom kaum
weniger als Wald und Wildnis wie ein Asyl einlaeden, Orte wo ich
geschuetzt bin vor gesellschaftlicher Bedraengnis, Bedraengnis
welche ihre Macht nur aus der Gegenwart schoepft, und welche das
Vergehen der Zeit mir unschaedlich gemacht hat.
Ihr beanstandet, dass meine Briefe mit Entschuldigungen und
Selbstbezichtigungen geziert oder beladen sind, wie immer man
will. Ich weiss nicht, wie es anders sein sollte; und kann nun
nicht umhin mich auch fuer die Entschuldigungen zu entschuldigen.
Erst die metaphysische Entschuldigung: Zwar war ich nie von
der Vorstellung der Erbsuende begeistert, aber eine andere
duestere Einsicht hat im Laufe der Jahre tiefen Eindruck auf mich
gemacht. Ich erinnere aus den Fragmenten der Vorsokratiker von
Hermann Diels, welche ich hier in Virginia nicht nachschlagen
kann, den ungefaehren Laut der Worte des Anaximander (550 B.C):
Der Ursprung aller Dinge ist das Unbegrenzte (apeiron) Die
bestehenden Dinge sind aus dem Unbegrenzten entstanden und
werden ihre Schuldigkeit abtragen indem sie ins Unbegrenzte
vergehen; und somit zahlen sie einander die von der Zeit
verordneten gerechten Strafen.
Wenn die Existenz als solche schon Schuld besagt, wie kann man da
umhin, sich zu entschuldigen?
Die zweite Entschuldigung ist gesellschaftsbedingt. Im
Grunde verlangt die Gesellschaft vom Individuum, dass es sich
allen anderen Mitgliedern gleich stellt. Ist nicht egalite ein
Spezialprodukt Eures Frankreichs? Wer nicht wie alle anderen
sein kann oder sein will, wird ausgestossen: Schon mit der
Sprache tyrannisieren wir einander, damit unsere Aussprache nur
nicht verraet, dass wir anders sind, quaelen wir uns
ununterschiedlich von einander zu mummeln. Bestaendig schlagen
wir in Woerterbuechern nach um jede Abweichung vom
Allgemeingebrauch zu vermeiden, und vom Duden lassen wir uns
befehlen, wie wir buchstabieren sollen, nicht um die
Unverstaendlichkeit, sondern schlicht um das Anderserscheinen zu
vermeiden.
Dabei gilt es ganz im allgemeinen als unsittlich die
Verschiedenheit der Menschen Herz und Geist zu erkennen, und das
Erkannte auszusprechen ist, wie man bei Euch sagt, ein faux pas.
Die Wenigen, die was davon erkannt,
Die toericht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten,
, . . . .
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. (Goethe)
,na In dieser Hinsicht, um der vermeinten Erkenntnis willen, bin
ich viele Entschuldigungen schuldig. Ist die Erkenntnis
verfehlt, so gebuehrt die Schuldigkeit dem Irrtum. Ist die
Erkenntnis gerecht, so traegt die Erkenntnis selbst die Schuld.
Ganz im allgemeinen, dienen Entschuldigungen der Ruege und
der Strafe vorzubeugen. Hin und wieder ist auch die
Entschuldigung ironische Selbsterniedrigung. Denn dem Partner im
Gespraech oder im Briefwechsel, (nichts persoenliches, dies ganz
im allgemeinen) liegt wie uns allen vornehmlich an Autoritaet.
Die Entschuldigung soll aber dazu dienen das
Autoritaetsbeduerfnis des Korrespondenten zu saettigen, und und
indem sie dies bewirkt, wird sie zu einem Schirm fuer die
Freiheit.
Eine andere, weit mehr optimistische und erbauliche
Erwaegung zu dem Thema der Besonderheit des Einzelnen hat Goethe
in den Wahlverwandschaften ausgesprochen: "Gegen die grossen
Vorzuege eines anderen, gibt es kein Rettungsmittel als die
Liebe." Anderweitig wird die Ueberlegenheit dem anderen
unertraeglich, und wird somit zur Ursache von Neid und Hass. Das
habe ich vielmals erlebt, und ich habe auch erfahren, dass in
dieser Welt eine der Ueberlegenheit gnaedige Liebe sehr selten
ist. Dann muss die Entschuldigung heran, zumindesten um ueber
die Ueberlegenheit hinwegzutaeuschen.
Die dritte Entschuldigung der Entschuldigung mag als eine
Sache geistig-seelischer Gerechtigkeit gedeutet werden.
Bekanntlich ist jeder sich selbst der Naechste, und jeder liebt
sich selbst am meisten, und entwirft sich dem entsprechend ein
Weltbild in welchem er ungerechter Weise als Mittelpunkt da
steht. Zugleich ist es aber letzthin unmoeglich in einem
egozentrischen Rahmen ein gerechtes Weltbild zu entwerfen. Die
Entschuldigung dient zur Relativierung des eigenen Standpunktes,
zur Relativierung des eigenen Wertes, der eigenen Bedeutung, zu
einer Relativierung welche Vorbedingung fuer jedes gerechte
Verstaendnis ist, und fuer jede gerechte Bewertung der Welt.
Dank auch fuer Peter Wapnewzkis Aufsatz ueber das Wandern,
Ich habe die fuenfunddreissig Seiten saemtlich durchgelesen, habe
auf der langen Fahrt von Belmont nach Konnarock wiederholt ueber
sie nachgedacht, und habe, nachdem wir hier ankamen, den Aufsatz
ein zweites Mal durchgelesen. Ich fand ihn sehr anregend. Das
Wandern ist wahrhaftig ein unerschoepfliches Thema; dabei ist es
mir peinlich keinen englischen Ausdruck entdecken zu koennen,
mittels dessen ich die Leidenschaft des Wanderns meinen
Enkelkindern zu erklaeren vermoechte. Vielleicht aber deutet die
Unuebersetzbarkeit dieses - und so vieler anderen Worte auf
unvermeidliche Grenzen der Sprache, und auf die Fehlhaftigkeit
der Annahme, dass wir mittels der Sprache zu einem
Einverstaendnis ueber das Wandern oder ueber irgend etwas sonst,
zu irgend einem gemeinsamen Erleben, gelangen koennten.
Sicherlich ist das einzige Mittel meine Enkelkinder ueber das
Wandern aufzuklaeren, sie auf Wanderungen mitzunehmen.
Was nun den Text der Schubert-Muellerschen "Schoene
Muellerin" betrifft, durch Professor Wapnewskis Abhandlung mir
aufs Neue ins Gedaechtnis gerufen, so denke ich, welch ein
inbegriffener Spott, dass selbst die schweren Steine ueber die
der Bach sein Murmeln zieht (Rilke), sich munter tanzend auf
Wanderschaft begeben sollten; welch eine Verhoehnung des
Wandererschicksals die stoehnende Umdrehung der in die
Muehlmaschiene eingegliederten Raeder als Wanderlust zu
bezeichnen. Mir faellt auf, dass aller einfuehrenden
Begeisterung zum Trotz (Das Wandern ist des Muellers Lust ... es
muss ein schlechter Mueller sein, dem niemals fiel das Wandern
ein u.s.w.) und alles abschliessenden Bedauerns ungeachtet,
(Wandrer, du mueder, du bist zuhaus) dieser Gedichtzyklus ein
Epos nicht der Wanderschaft sondern der Gegen-Wanderschaft, der
Sesshaftigkeit ist, dass der in seine schoene blauaeugige
Muellerin vernarrte Gesell vom Gift der Leidenschaft gelaehmt
war, dass aus ihm in Folge seiner Vergiftung ein in der Muehle
Gefangener, der tatsaechlich ein "schlechter Mueller" "dem
niemals fiel das Wandern ein," geworden war.
Die von Schubert nicht vertonten Vor- und Nachreden zur
Schoenen Muellerin moegen als Andeutung gelten, dass der
Verfasser seine Gedichte mit einer ironischen Einklammerung zu
versehen wuenschte. Ob der Dichter oder auch der Komponist sich
einer komisch-tragischen Dialektik bewusst waren, oder ob diese
Dialektik jenseits moeglicher Bewusstheit im Wesen des
Menschseins liegt und mit oder ohne des Dichters bewusstem oder
unbewusstem Beistand zum Ausdruck draengt, oder ob die entdeckte
Dialektik nur die leere Erfindung meiner selbst als eines
Klugschwaetzers ist, wer wagte es zu entscheiden? Vielleicht ist
der tiefte Sinn dieses Gedichtzyklus, dass Flucht in die
Wanderschaft manchmal unmoeglich ist. Bezeugt doch die
Winterreise wohin eine Wanderung unter solchen Umstaenden haette
fuehren moegen.
In einem fruehern Brief an Euch, oder jedenfalls in einem
moeglicherweise nicht abgesandten Briefentwurf, bemaengelte ich
bei Wilhelm Diltheys Jugendgeschichte Hegels die unkritische,
vielleicht sogar sympathisierende Darstellung von Hegels
antisemitischer Analyse des Judentums. Diese meine Kritik an
Dilthey moechte ich zurueckziehen, mit der Erklaerung dass ich
seitdem Diltheys Buch ueber Lessing gelesen habe wo Diltey
bekennt Lessings ausdruecklich philosemitischen Nathan der Weise
"nicht ohne eine Thraene im Auge" lesen zu koennen. Dabei wurde
es mir klar, nicht dass Dilthey unbedingt den Philosemitismus
Lessings teilt, das hat man kein Recht von ihm zu erwarten, aber
dass es Diltheys Genie war sich (fast) voellig mit dem von ihm
jeweils behandelten Schriftsteller zu identifizieren, und sein
(Diltheys) eigenes Erleben hinter den Geist des von ihm
besprochenen Dichters oder Philosophen zuruecktreten zu lassen,
so dass Diltheys Beschreibungen helle klare ueberzeugende Bilder
seines Sujets abgeben. Darin erkenne ich jetzt die Groesse von
Diltheys Kunst, und es war beschraenkt von mir dies beim Lesen
der Jugendgeschichte Hegels nicht erkannt zu haben.
Zu Lessing bin ich von Kierkegaard gekommen; denn
Kierkegaard war ein Lessingfan. (Ihr hoert meine Sprache ist
total uptodate; denn mein Denken ist hochaktuell.) Ich habe den
Eindruck dass Kierkegaard sich dermassen in Lessing vertieft hat,
dass die Vernunftreligion des achtzehnten Jahrhunderts in
Kierkegaard ganz unerwartet und uebersehen eine neuen Ausdruck
gefunden hat. Von Lessing hat mich der Weg zu Leibniz gefuehrt,
zu Spinoza, und ueberhaupt in die Welt des siebzehnten
Jahrhunderts, wo ich reichlich Beschaeftigung gefunden habe. Die
Texte bleiben immerhin noch ein Problem. Von Leinbiz besitze ich
eine stark verkuertzte Sammlung seiner Schriften auf Deutsch.
Einige urspruenglich franzoesische Schriften konnte ich mir vom
Internet besorgen, und diese vergleiche ich nun mit der deutschen
Uebersetzung. Von Spinoza fand ich, vor mehr als fuenfzig Jahren
ein einer Buchhandlung im Harvard Square, zufaellig,
gluecklicherweise, eine Sammlung der urspruenglich lateinisch und
hollaendisch verfassten Werke, in einem fuer meine Begriffe, wenn
ich mir die Kritik erlauben darf, elenden Latein, Texte die ich
nun an Hand von englischen Uebersetzungen zu entziffern versuche.
Bei diesen Bemuehungen bin ich zu ontologisch-
epistemologischen Einsichten oder Beschluessen gekommen, welche
wahrscheinlich von anderen schon laengst entdeckt worden sind,
Beschluesse deren scheinbare Neuigkeit nichts so sehr bezeichnet
wie die Beschraenkungen des eigenen Wissens. Aber auf diesen
Gebieten scheint es wahr, mehr noch als auf anderen, dass man
besitzt, dass man in eigener Ueberzeugung zu halten vermag, nur
was man sich selbst mit eigener Arbeit, auf eigene Weise, geistig
erworben hat. Jedenfalls habe ich mich ueberzeugt, dass der
uralte Gegensatz von Materiellem und Nichtmateriellem, von
Koerper und Seele, von Stoff und Geist, dass dieser Widerspruch
nicht im Wesen der Natur, nicht im Wesen des Menschen oder der
Dinge liegt, sondern dass dieser Widerspruch Folge und Ausdruck
menschlichen Denkens, menschlicher Begriffsbildung, menschlicher
Sprache ist. Eine Unterscheidung welcher im Bereiche der
Wirklichkeit, oder der Natur, jegliche Bedeutung ausfaellt, so
dass wir weder einer Leibizschen praestabilierten Harmonie noch
einer Kantschen Kritik unseres Verhaeltnisses zu einer
transzendentalen Wirklichkeit beduerfen. Merkwuerdig, wie jeder
Versuch die Wirklichkeit begrifflich zu fassen auf die Hypostase
eines mehr oder weniger absoluten "Geistes" hinauslaeuft. Es ist
als ob die Natur wie ein impenetrabler Spiegel, statt unserem
Draengen nach Erkenntnis den Blick in die Wirklichkeit zu
eroeffnen, verfuehrerisch und taeuschend, nichts als den
zudringlichen Geist zurueckspiegelt. Somit erscheinen die
metaphysischen Fragen, um die Seele, um Gott, um Unendlichkeit
und Ewigkeit lediglich als Erzeugnisse des eigenen Gemuets ueber
welche Aufklaerung unmoeglich ist, weil gerade im Versuch sie
aufzuklaeren sie immer von neuem geschaffen werden.
Entsprechend dieser Einsicht in die Metaphysik, ist eine
Deutung der Erkenntnisproblematik. Fuer die kantsche Frage, wie
ist Wissenschaft moeglich schlage ich zwei Antworten vor: erstens
dass Wissenschaft ein Gesellschaftsphaenomen ist, dass
Wissenschaft unmittelbar von der Symbolik der Mathematik und vor
allem von der Symbolik der Sprache getragen wird; dass es ein
verhaengnisvoller Irrtum ist, die Wissenschaft als Errungenschaft
des Einzelnen oder auch nur als vom Einzelnen erreichbar zu
betrachten. Die Wissenschaft ist eine phantastische Vorstellung
eines zusammenhaengenden, gegliederten und folgerichtigen
Gedankengebaeudes, welches in seiner Ganzheit nie und nimmer
zustande kommt, welches immer nur in Vorlaeufigkeiten und
Bruchstuecken verrieselt.
Alles Wissen hingegen ist Wissen des Einzelnen, Dies Wissen
des Einzelnen ist ein provisorisches Koennen, ein Komplex von
schwankenden zu- und abnehmenden Faehigkeiten welche immer nur in
ihrer Ausuebung offenbart und bestaetigt werden. Die Gueltigkeit
dieses Wissen des Einzelnen beruht auf einer unscheinbaren
Abwandlung und Anpassung des Einzelnen an jene Umwelt fuer deren
Einfluesse auf ihn er empfaenglich ist. Dieser Satz besagt kein
grosses Geheimnis. Er spricht lediglich aus was jeder Mensch aus
eigener Erfahrung zu ermitteln und bestaetigen vermag.
Die Beweise des unmittelbaren Einflusses der objektiven Welt
auf das subjektive Ich sind naheliegend. Die Sommersonne braeunt
die Haut. Die ultravioletten Strahlen bewirken eine Vermehrung
der melanintragenden Zellen. So wird die Haut objektiv gebraeunt
und subjektiv schmerzhaft. Ueberall draengen sich Zeugnisse auf
ueber die Wirkung der Aussenwelt an Leib und Seele. Die Speise
saettigt; indessen verursacht verdorbene Speise Uebelkeit.
Anstrengung ermuedet. Das Erblicken von Gestalten bewirkt die
Entwicklung des Gesichtsvermoegens. Ein abgedecktes Auge wird nie
sehen. Die Melodie einer Musik dringt ins Gemuet um dort
Veraenderungen herbeizufuehren, welche den Hoerer befaehigen
einst von selbst, spontan, die gehoerte Melodie auf einem
Instrument zu spielen oder mit eigener Stimme zu singen. Und die
Sprache, vor allem die Sprache, die Toene, die Worte, die
Aussprache die ich hoere wird verinnerlicht, bewirkt
Verwandlungen in mir, mag man sie sich als koerperliche oder als
geistige Verwandlungen vorstellen, Verwandlungen jedenfalls
welche mich befaehigen selbst zu sprechen, mit denselben Worten
in demselben Tonfall, mit denselben Lauten mit welchen mir
urspruenglich die Sprache ins Ohr fiel. Und wie es mit der
Sprache und ihren Lauten geht, so geht es mit anderem Lehrstoff
auch. Ich hoere ihn, ich lasse ihn auf mich wirken, ich nehme
ihn in mich auf, und er verwandelt mich, macht mich tatsaechlich
zu einem anderen Menschen der hernach bei passender Gelegenheit
dem einverleibten Lehrstoffe Zeugnis ablegt. Diese Aufnahme der
Aussenwelt aber, diese Verwandlung durch die Aussenwelt geht vor
sich unbewusst und unbeachtet und oftmals unerkannt, Erst in
einem guenstigen Augenblick beweist das Wissen sich als zugegen,
und dann erscheint es wie ein unerklaerbares Geheimnis.
Der Mensch wird wissend, und die Gueltigkeit des erworbenen
Wissens ist eine dreifache: Erstens gesellschaftlich, in dem
Sinne dass mein Wissen mit dem Wissen anderer
Gesellschaftsmitglieder uebereinstimmt. Dies ist zugleich ein
sehr bedeutendes Anzeichen der Gueltigkeit, aber auch ein Zeichen
das stets in Gefahr ist dem Irrtum zu verfallen. Zweitens die
Anwendbarkeit und Wirksamkeit des Wissens, und dies auf
verschiedenen Stufen. Drittens die Bestaendigkeit und
Wiederholbarkeit des Gewussten, und dessen Bestaetigkung durch
wiederkehrende Wahrnehmung.
Die unbewussten unscheinbaren Eindruecke welche die
Beruehrung mit der Welt, mit der Umgebung am Menschen ausloest,
die Verwandlungen des Menschen welche auf Grund dieser Beruehrung
stattfinden, moegen mit den von Ernst Cassirer postulierten
symbolischen Formen verglichen oder diesen gleichgestellt werden.
Durch dieses Verfahren der unbewussten Abwandlung, der
unscheinbaren Anpassung des Menschen an seine Umgebung wird,
jedenfalls fuer mein Verstaendnis, die Gueltigkeit, die
Triftigkeit des Wissens erklaert.
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