20020516.02

     Bei diesen Bemuehungen bin ich zu ontologisch-
epistemologischen Einsichten oder Beschluessen gekommen, welche
wahrscheinlich von anderen schon laengst entdeckt worden sind,
Beschluesse deren scheinbare Neuigkeit nichts so sehr bezeichnet
wie die Beschraenkungen des eigenen Wissens.  Aber auf diesen
Gebieten scheint es wahr, mehr noch als auf anderen, dass man
besitzt, dass man in eigener Ueberzeugung zu halten vermag, nur
was man sich selbst mit eigener Arbeit, auf eigene Weise, geistig
erworben hat.  Jedenfalls habe ich mich ueberzeugt, dass der
uralte Gegensatz von Materiellem und Nichtmateriellem, von
Koerper und Seele, von Stoff und Geist, dass dieser Widerspruch
nicht im Wesen der Natur, nicht im Wesen des Menschen oder der
Dinge liegt, sondern dass dieser Widerspruch Folge und Ausdruck
menschlichen Denkens, menschlicher Begriffsbildung, menschlicher
Sprache ist.  Eine Unterscheidung welcher im Bereiche der
Wirklichkeit, oder der Natur, jegliche Bedeutung ausfaellt, so
dass wir weder einer Leibnizschen praestabilierten Harmonie noch
einer Kantschen Kritik unseres Verhaeltnisses zu einer
transzendentalen Wirklichkeit beduerfen.  Merkwuerdig, wie jeder
Versuch die Wirklichkeit begrifflich zu fassen auf die Hypostase
eines mehr oder weniger absoluten "Geistes" hinauslaeuft.  Es ist
als ob die Natur wie ein impenetrabler Spiegel, statt unserem
Draengen nach Erkenntnis den Blick in die Wirklichkeit zu
eroeffnen, verfuehrerisch und taeuschend, nichts als den
zudringlichen Geist zurueckspiegelt.  Somit erscheinen die
metaphysischen Fragen, um die Seele, um Gott, um Unendlichkeit
und Ewigkeit lediglich als Erzeugnisse des eigenen Gemuets ueber
welche Aufklaerung unmoeglich ist, weil gerade im Versuch sie
aufzuklaeren sie immer von neuem geschaffen werden.

     Entsprechend dieser Einsicht in die Metaphysik, ist eine
Deutung der Erkenntnisproblematik.  Fuer die kantsche Frage, wie
ist Wissenschaft moeglich schlage ich zwei Antworten vor: erstens
dass Wissenschaft ein Gesellschaftsphaenomen ist, dass
Wissenschaft unmittelbar von der Symbolik der Mathematik und vor
allem von der Symbolik der Sprache getragen wird; dass es ein
verhaengnisvoller Irrtum ist, die Wissenschaft als Errungenschaft
des Einzelnen oder auch nur als vom Einzelnen erreichbar zu
betrachten.  Die Wissenschaft ist eine phantastische Vorstellung
eines zusammenhaengenden, gegliederten und folgerichtigen
Gedankengebaeudes, welches in seiner Ganzheit nie und nimmer
zustande kommt, welches immer nur in Vorlaeufigkeiten und
Bruchstuecken verrieselt.

     Alles Wissen hingegen ist Wissen des Einzelnen, Dies Wissen
des Einzelnen ist ein provisorisches Koennen, ein Komplex von
schwankenden zu- und abnehmenden Faehigkeiten welche immer nur in
ihrer Ausuebung offenbart und bestaetigt werden.  Die Gueltigkeit
dieses Wissen des Einzelnen beruht auf einer unscheinbaren
Abwandlung und Anpassung des Einzelnen an jene Umwelt fuer deren
Einfluesse auf ihn er empfaenglich ist.  Dieser Satz besagt kein
grosses Geheimnis. Er spricht lediglich aus was jeder Mensch aus
eigener Erfahrung zu ermitteln und bestaetigen vermag.

     Die Beweise des unmittelbaren Einflusses der objektiven Welt
auf das subjektive Ich sind naheliegend.  Die Sommersonne braeunt
die Haut.  Die ultravioletten Strahlen bewirken eine Vermehrung
der melanintragenden Zellen.  So wird die Haut objektiv gebraeunt
und subjektiv wird sie schmerzhaft.  Ueberall draengen sich
Zeugnisse auf ueber die Wirkung der Aussenwelt an Leib und Seele.
Zutraegliche Speise saettigt; indessen verursacht verdorbene
Speise Uebelkeit.  Anstrengung ermuedet, verstaerkt aber auch in
Angesicht der Ermuedung Musklen und Knochen.  Ein abgedecktes
Auge wird nie sehen.  Erst das Erblicken von Gestalten bewirkt
die Entwicklung des Gesichtsvermoegens.  Die Melodie einer Musik
dringt ins Gemuet um dort Veraenderungen herbeizufuehren, welche
den Hoerer befaehigen einst von selbst, spontan, die gehoerte
Melodie mit eigener Stimme zu singen oder auf einem Instrument zu
spielen.  Und die Sprache, vor allem die Sprache, die Toene, die
Worte, die Aussprache die ich hoere wird verinnerlicht, bewirkt
Verwandlungen in mir, mag man sie sich als koerperliche oder als
geistige Verwandlungen vorstellen, wird ein Teil meiner selbst.
Verwandlungen jedenfalls welche mich befaehigen selbst zu
sprechen, mit denselben Worten in demselben Tonfall, mit
denselben Lauten mit welchen mir urspruenglich die Sprache ins
Ohr fiel.  Und wie es mit der Sprache und ihren Lauten geht, so
geht es mit anderem Lehrstoff auch.  Ich hoere ihn, ich lasse ihn
auf mich wirken, ich nehme ihn in mich auf, und er verwandelt
mich, macht mich tatsaechlich zu einem anderen Menschen der
hernach bei passender Gelegenheit dem einverleibten Lehrstoffe
Zeugnis ablegt.  Diese Aufnahme der Aussenwelt aber, diese
Verwandlung durch die Aussenwelt geht vor sich unbewusst und
unbeachtet und oftmals unerkannt, Erst in einem guenstigen
Augenblick beweist das Wissen sich als zugegen, und dann
erscheint es wie ein unerklaerbares Geheimnis.

     Der Mensch wird wissend, und die Gueltigkeit des erworbenen
Wissens ist eine dreifache: Erstens gesellschaftlich, in dem
Sinne dass mein Wissen mit dem Wissen anderer
Gesellschaftsmitglieder uebereinstimmt.  Dies ist zugleich ein
sehr bedeutendes Anzeichen der Gueltigkeit, aber auch ein Zeichen
das stets in Gefahr ist dem Irrtum zu verfallen.  Zweitens die
Anwendbarkeit und Wirksamkeit des Wissens, und dies auf
verschiedenen Stufen.  Drittens die Bestaendigkeit und
Wiederholbarkeit des Gewussten, und dessen Bestaetigkung durch
wiederkehrende Wahrnehmung.

     Die unbewussten unscheinbaren Eindruecke welche die
Beruehrung mit der Welt, mit der Umgebung am Menschen ausloest,
die Verwandlungen des Menschen welche auf Grund dieser Beruehrung
stattfinden, moegen mit den von Ernst Cassirer postulierten
symbolischen Formen verglichen oder diesen gleichgestellt werden.
Durch dieses Verfahren der unbewussten Abwandlung, der
unscheinbaren Anpassung des Menschen an seine Umgebung wird,
jedenfalls fuer mein Verstaendnis, die Gueltigkeit, die
Triftigkeit des Wissens erklaert.

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