20020519.00
Spinozas Betrachtung, dass der Mensch mittels der Einsicht,
mitters des Denkens, mittels der Reflexion, mittels des Geistes,
seine (ewige) Glueckseligkeit zu bewerkstelligen vermag, erinnert
an die Maxime der Stoiker ueber die Selbsterkenntnis, und vor
allem an das Sokratische "Erkenne dich selbst". Geriet in der
Zeit des deutschen Idealismus, wenn ich ihn nicht missverstehe,
so ziemlich in Vergessenheit, oder wurde entstellt, denn der
Geist welcher von Fichte und Hegel ausposaunt wurde war alles
andere als selbstpruefend, war alles andere als beschaulich; und
weder der Materialismus noch der Positivismus hat die
Selbstpruefung wieder entdeckt. Dann mit den psychoanalytischen
Theorien Sigmund Freuds erlebte die Weisung sich selbst zu
erkennen in einer verschrobenen Art seine bedenkliche
Renaissance, mit der Eigenart jedoch, dass der Ertrag diese
vermeinten Selbsterkenntnis der widerwaertige geistig-seelsiche
Abfall war, welchen die juedisch-christloche Ueberlieferung
gerechter oder ungerechter Weise, auf den moralischen Muellhaufen
konsigniert hatte. Hinzu kommt der Widerspruch, dass die
freudsche Lehre im wesentlichen sich selbst verspottet, insofern
als sie die raesonnierende Geistigkeit welche die Psychoanalyse
erst moeglich macht, als wesenlosen Schleier (Furnier, veneer)
auslegt, Sie behauptet naemlich, dass der Antrieb und die Macht
menschlichen Verhaltens im Unterbewusstsein haust, wo ihm das
bewusste, gewissenhafte Denken nichts anzuhaben vermag, und im
vergleich womit dies Denken belanglos und nevbensaechlich
erscheint.
Der Selbsterkenntnis nah verwandt, und tatsaechlich mit
dieser verschmilzend, ist die Erkenntnis der Einverleibung
(incorporation) des Einzelnen in die Gesellschaft; und seine
herausloesung aus ihr. Die uebermaessigen Schwierigkeiten dieser
Vergesellschaftung sind nicht leicht zu begreifen oder gar
darzustellen. Wenn man sich die Menschheit als eine sich
entwickelnde Gattung vorstellt, so mag das
Vergesellschaftungsdilemma als eine Entwicklungsstoerung, eine
Entwicklungsunvollkommenheit, vielleicht gar als
Entwicklungskrise a developmental imperfection, zu erklaeren
sein; wie etwa die verhaltnismaessige Schwache des Rueckgrates
sich erklaeren laesst durch die Vermutung dass die Urvorfahren
des Menschen nicht von zwei, sondern von vier Beinen getragen
wurden. So ist es vorstellbar, dass in Urzeiten die
Abhaengigkeit der einzelnen Menschen von einander so gross war,
dass die moegliche Individualisierung der Menschen weithin
zurueckgehalten wurde; dass dann aber die Erfindung von
Werkzeugen mehr und mehr raffinierte Art, die praktische
Unabhaengigkeit des Einzelnen dermass steigerte, oder jedenfalls
die Art seiner Abhaengigkeit verwandelte, so dass er heutzutage
oftmals nicht weiss, wie er sich in gegebener Lage betragen
sollte, oder dass er einsieht oder ahnt, dass es fuer ihn unter
gegebenen Umstaenden eine konstruktive Beziehung zur Gesellschaft
ueberhaupt nicht gibt, dass es noetig ist die Beziehung zur
Gesellschaft so vorteilhaft (guenstig) wie nur moeglich zu
gestalten, oder, umgekehrt, die Problematik der
Gesellschaftsbeziehungen nach Moeglichkeit zu vermindern. Ich
bin der Ueberzeugung dass auch die Gesellschaftsproblematik, und
besonders sie, der Reflexion, der vernunftgemaessen Beschreibung
und Analyse zugaenglich ist, und dass (genau, vergleichbar) wie
das Nachdenken, wie die Reflexion die Problematik des Ichs
wenngleich nicht loest, so doch wesentlich vermindert, die
Reflexion, das Nachsinnen, oder auch nur die Beschreibung die
Problematik der Beziehung zur Gesellschaft wesentlich verringert.
Die Reflexion erreicht dies indem sie eine Anpassung (einen
Ausgleich des Einzelnen mit der Gesellschaft) des Einzelnen an
die Gesellschaft bewirkt, eine Anpassung, eine Beschwichtigung,
eine Verminderung der Problematik, indem sie neue Auswege,
Kompromisse, und Erfindungen einleitet.
Ueberhaupt und ganz im allgemeinen, verursacht (bewirkt) die
Darstellung des Widerspruchs, nicht als eklatantes Paradox,
sondern als dynamische Dialektik, eine Distanzierung, eine neue
Perspektive des Problems. Es ist als ob mit der dialektischen
Darstellung, mit der Erkenntnis der dialektischen Eigenart des
Gegebenen der Herd (focus) der Aufmerksamkeit, der Besorgnis, der
Verwirrung von dem urspruenglichen (underlying)
Gesellschaftsproblem auf etwas anderes, weniger Bedrohendes,
weniger Schmerzhaftes abgelenkt wuerde.
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