20020730.01

     Wieder einmal sitze ich auf der Veranda an meiner Eltern
Haus in den Bergen Virginias von deren Gipfeln mein Blick nur
durch einen dichten Schleier hochsommerlich dunkelgruenen Laubes
getrennt ist.  Ich besinne mich auf den letzten Brief welchen ich
vor zwei Monaten auskluegelte, an eben demselben improvisierten
Schreibtisch, einem geringfuegigen quadratischen Klappgestell,
das nie und nimmer zum Schreiben, sondern lediglich zum
Kartenspielen ersonnen wurde, a bridge table, no less, welcher in
unserer Familie, in der laut meines Vaters Ueberzeugung das
Kartenspiel als ein dem kultivierten Menschen unziemlicher
Zeitvertreib verpoent wurde, seine eigentlichen Bestimmung nie
erfuellte.

     Ich besinne mich dieses letzten Briefes an Euch, weil ich,
des gehoerigen Portos unkundig, ihn tagelang auf besagtem
Kartentisch liegen liess, bis ich ihn zuletzt, bei Gelegenheit
einer anderen Besorgung, zum naechstliegenden Postamt in dem
benachbarten Chilhowie brachte, mit dessen Poststempel versehen
er bei Euch angekommen sein muss.

     Der Weg von Konnarock nach Chilhowie fuehrt ueber Straight
Mountain der in Hoehe von tausend Fuss unser Tal gegen Norden
abgrenzt.  In meiner Kindheit war der Weg nichts mehr als eine
staubige schmale steile serpentinenreiche Bergstrasse auf der
zwei sich begegnende Autos nur mit "Vorsicht" und "Pass auf" -
ich hoere noch meiner Mutter Stimme, - an einander vorbei zu
kriechen wagten; der Weg wurde vor etwa dreissig Jahren
gepflastert, und endlich vor zwei Jahren mit einer breiten,
schnurgeraden Chaussee ersetzt; ein Bauwerk brutalster Gesinnung;
das aller aesthetischen Empfindsamkeit trotzt.  Zahlreiche
Gebirgsvorspruenge wurden von monstroesen "Bulldozer" geebnet und
in die dazwischenliegenden Schluchten geschoben um diese
aufzufuellen.  (Der deutsche Ausdruck fuer "bulldozer" fehlt mir,
denn mein altes Lexikon, obgleich es sich als "enzyklopaedisch"
bruestet, will nichts von diesen Maschinen wissen.)  Jedenfalls
bewirkt diese radikale Umgestaltung der Oberflaeche bei dem
Reisenden die Ausloeschung seines Bewusstseins der Zugehoerigkeit
zu der Landschaft die er durchquert, eine Zugehoerigkeit welche
ich einst als mueder Wandrer auf dem Weg nach Hause lebhaftig in
Sohlen und Enkeln spuerte.  Der Verlust dieses
Zugehoerigkeitsbewusstseins ist der Preis welchen die moderne
Technik fuer die Bequemlichkeit fordert, ein Preis welcher im
Flugzeugverkehr sein Hoechstmass erreicht.  Jedesmal wenn ich auf
dieser neugebauten Strasse fahre, fuehle ich mich einer
urspruenglichen Beziehung zur Erde beraubt.

     An einer Stelle wo einst die alte Strasse besonders
malerisch eine sehr enge Kurve beschrieb, hat man am Rande der
neuen, einen geraeumigen Parkplatz eingerichtet, ein Ort der, wie
fast immer, auch bei dieser Fahrt ueber Straight Mountain leer
stand. Dort machte ich halt, um meinen Brief an Euch ein letztes
Mal zu ueberlesen.  Und indem mein Blick hin und zurueck
schweifte, zwischen dem gedruckten Blatt auf dem Steuerrad vor
meinem Gesicht, und dem sonnenbeschienenen weiten und tiefen Tal
das sich bis an die fein gezeichneten Bergruecken am fernen
Horizont erstreckte, entdeckte ich in meinem Schreiben einen
Fehler der mich verhaengnisvoller duenkt jedes Mal das ich mich
seiner erinnere.  Trotzdem entschloss ich mich den Brief
unberichtigt abzuschicken, denn ich ahnte sofort, dass der
entdeckte Fehler wohl nicht der einzige Fehler sein mochte, den
der Brief enthielt; und dass, wenn ich darauf bestaende nur
Fehlerfreies an Euch abzuschicken, Ihr wohl nie wieder von mir
hoeren wuerdet.

     Der Irrtum dessen ich mir auf dem Parkplatz dort am Abhang
des Straight Mountain bewusst wurde war an sich belanglos genug,
betraf mein Missverstaendnis des Eingangsgedichts vom Schoenen
Muellerin Zyklus insofern als mit den tanzenden Steinen die dort
erwaehnt werden nicht die Steine im Flussbette gemeint sind,
Steine, wie ich zitierte, ueber die der Bach sein Murmeln zieht,
Steine denen durch das sprudelnde Wasser verursachte optische
Taeuschungen moeglicherweise den Schein der Bewegung verleihen.
In diesem Sinne hatte ich mir sechzig Jahre lang das Gedicht
ausgelegt.  Jetzt wurde mir klar, dass nicht die Steine am Boden
des Baches gemeint waren, dass es tatsaechlich die mechanisch
getriebenen massiven Muehlsteine sind welche des Dichters
Einbildung zu Taenzerinnen umgestalten will, und deren Bewegung
er als ein Tanzen vorstellt.
 "Sie tanzen mit dem munteren Rein
  Und wollen gar noch schneller sein,"
schreibt er.  Das ist fuer mein Empfinden ein noch
gefaehrlicherer Vergleich, welcher die Steine, den Bach, die
Muehle, Mueller und Muellerin allesamt als Karikaturen entlarvt
und sie schwups aus dem deutschen romantischen Maerchenwald, mir
nichts dir nichts, ins amerikanische Disneyland versetzt.  Da hat
Goethe mit dem schlichten Bekenntnis das er dem armen Gretchen in
den Mund legt: "Mir wird bei alledem so dumm, als ging ein
Muehlrad mir im Kopf herum," den Geist der Muehlendynamik
treffender beschrieben.

     Mein Irrtum aber weist auf die Moeglichkeit, wenn nicht auf
die Wahrscheinlichkeit hin, dass wenn mir der Sinn dieses so
simplen Gedichtes so viele Jahre lang verhuellt blieb, ich mich
auch in vergleichbarem Irrtum befinde betreffs wesentlicherer
Fragen ueber die ich im Laufe der Jahre nachgedacht habe, und um
deren Erklaerung ich gemeint habe so viele Wochen und Monate
meines Lebens verausgaben zu sollen.  Dieser Beschluss ist mir
unumgaenglich; und ich weiss nicht wie ich diese Fehler
aufzudecken vermoechte, selbst wenn ich saemtliche mir noch
bleibenden Tage auf jenem Parkplatz am Hang des Straight Mountain
verbraechte.

     Unter den Fragen ueber die ich mich in Unbestimmtheit,
vielleicht im Irrtunm befinde steht obenan das Problem der
Beziehungen der Menschen zu einander.  Auf diesem Gebiet waechst
meine Ueberzeugung dass die Beziehungen zwischen den Menschen
nicht, wie das Christentum lehrt, im Grunde liebevoll sind, oder
auch nur sein sollten.  Im Gegenteil, naturgemaess stehen die
Menschen einander feindselig gegenueber.  Sie tun sich zusammen
nicht weil sie einander lieben, sondern sie fuehlen sich
gedrungen so zu tun als ob sie sich liebten, weil sie sich
gegenseitig benoetigen, und sich um ihres Ueberlebens und
Gedeihens willen zusammenschliessen muessen, und weil es erst die
vorgebliche Zuneigung, die angeblich uneigennuetzige Liebe, die
vorgetaeuschte Agape ist, welche die eingefleischte
Feindseligkeit daempft, und somit das unvermeidliche
Zusammenleben ertraeglich macht.  In dieser Hinsicht waere die
wirklich uneigennuetzige Neignung der Menschen zu einander eine
Seltenheit, eine Ueberraschung, eine Anomalie, ein Wunder von
denkbar eigenartigster Schoenheit; einer Schoenheit von welcher
wie von kaum etwas anderem Rilkes Urteil ueber das Schoene gilt:
"... Denn das Schoene ist nichts
 als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
 und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmaehts,
 uns zu zerstoeren. ..."
Diese Betrachtung hat sich mir aus der Beobachtung der
verzweigten und verschlungenen Beziehungen nicht nur in meiner
aerztlichen Praxis, sondern auch in der eigenen Familie ergeben
und ich repetiere sie mir als einen Ariadnefaden welcher die
Handhabung solcher Beziehungen ueberhaupt erst ermoeglicht.
Einzelheiten darueber werdet ihr aus meinem Familienroman erlesen
koennen, falls ich lange genug lebe ihn zu schreiben, und ihr
Geduld genug aufbringt ihn zur Kenntnis zu nehmen.

     In diesem Sinne erlaube ich mir auch eine neue Erklaerung
von Thomas Manns grossem Roman Buddenbrooks ueber den Verfall
einer Familie.  In frueheren Jahren pflichtete auch ich der
ueblichen Deutung dieser Geschichte bei, in dem Sinne, dass
dieser Roman tatsaechlich den Verfall einer Familie beurkundet.
Vor einiger Zeit aber verwandelte sich mir das Bild des
buddenbrookschen Schicksals, insofern mir die vorgebliche
Bluetezeit jenes Geschlechts nun als Taeuschung erscheint, als
eine Epoche in welcher die Familienmitglieder lediglich durch
oberflaechliche und aeusserliche Vergesellschaftung mit einander
verbunden sind, durch Taufen und Hochzeiten, und gezwungene
Feierlichkeiten verschiedenster Art; und dass letzten Endes die
verschiedenen Mitglieder dieser aeusserlichen Familieneintracht
ihre Leben in Einsamkeit und Verzweiflung fristeten, jedes nach
seiner Art, lives of quiet desperation, - ich glaube Thoreau hat
den Audruck gepraegt; eine Verzweiflung in welcher sie gefangen
sind, wie der juengere Bruder, Christian, in der Irrenanstalt,
und Tony in der Reihenfolge ihrer missglueckten Ehen.  Befreit
von dem Familienschicksal werden sie letzten Endes nur durch die
Aufloesung ihrer Familienbande oder durch den Tod, whichever
comes first.

     In dieser Hinsicht erscheint die Tragoedie der Buddenbrooks
uebertrieben, denn was an jener Familie verfiel war letzten Endes
nur das Aeussere, das Ansehen der Familie in der Stadt; was
verloren ging war der politische Einfluss des Senators, die
erfolgreiche kaufmaennische Konkurrenz mit den Hagenstroems.
Dieses Ansehen in der Stadt, der materielle Reichtum und die
buergerliche Ehre, waren von Anfang ein Missverstaendnis, eine
Illusion, eine Taeuschung, eine Idealisierung.  Die ueberlebende
Tochter Tony, Tony Buddenbrook, Gruenlich, Permaneder, sie, die
am Ende des Buches zu sich selbst kommt, deren Persoenlichkeit
und Innerlichkeit die Familienkomoedie ueberlebt, sie ist es die
in ihrer Einsamkeit den Weg zu gueltigerer Existenz weist.

     Inzwischen ist ein Gewitter mit starkem Donner, unsichtbarem
Blitz und gelindem Regen vorueber gezogen. Der Vorsicht halber, -
vor Jahren zerstoerte mir ein naher Treffer durch induzierte
Hochspannungen fast die gesammte Computeranlage, - stellte ich
mein Geraet auf Batterie um, und schrieb weiter.  Jetzt scheint
wieder die Sonne. Es ist ein Vorteil unserere Hoehenlage von etwa
3000 Fuss, dass wir kuehl bleiben duerfen, selbst wenn drunten im
Tale fast unertraegliche Hitze waltet.

     Zum Abschluss noch eine Skizzierung vorlaeufiger Ergebnisse
meiner erkenntnistheoretischen Gruebeleien.  Die moderne
Erkenntnistheorie ist wie mir scheint von den Errungenschaften
der Technik in einem Masse berauscht, dass sie meint ueberhaupt
nicht danach fragen zu muessen, zu sollen oder auch gar zu
duerfen, worin das Wissen und dessen Gueltigkeit besteht.  Statt
zu fragen was denn die Wissenschaft eigentlich sei, folgt sie
stracks der Anleitung Kants mit seiner Frage wie denn
Wissenschaft moeglich sei, eine Frage welche das Bestehen der
Wissenschaft und die Tatsache ihrer Gueltigkeit voraussetzt.

     Nun wird es auf den ersten Einfall als ein Wahnsinn
erscheinen hier zu sitzen und mit dem raffiniertesten
Computergeraet einen Brief zu verfertigen der behauptet dass das
Wissen auf welchen diese Technik fusst, irgendeines weiteren
Beweises, einer Rechtfertigung, einer Bewaehrung, irgendeiner
ausfuehrlicheren Demonstration bedarf.  Der Beweis scheint
unmittelbar aus dem Erfolge hervorzugehen.

     Und doch widerspricht eine weitere Erfahrung der Gruendung
des Wirkens auf das begriffliche Wissen.  Fliegen denn die Voegel
auf Grund wissenschaftlichen Erkennens?  Bedienen sie sich einer
wissenschaftlichen Lehre, wenn sie zielsicher ueber Laender und
Meere ziehen?  Verfuegen denn die Bienen ueber eine Wissenschaft
mittels derer sie sich den Bluetensaft sammeln, oder die
Schmetterlinge, die Monarch butterflies, um alljaehrlich den Flug
von tausenden von Meilen zwischen Kanada und Mexiko zustande
bringen.  Wenn die gesamte Tierwelt ihre Leistungen unabhaengig
jeglicher begrifflichen wissenschaftlichen Kenntnis vollbringen,
waere es nicht eine Anomalie wenn lediglich die Leistungen der
Menschen eine Begruendung in der Wissenschaft, in der
begrifflichen Theorie, benoetigen, da alle anderen anderen
Lebewesen, soweit wir es feststellen koennen, ohne eine solche
Theorie glaenzend auszukommen vermoegen.  Wir brauchen uns nur
selbst zu betrachten, um zu erkennen, wie unabhaengig unsere
Leistungen von allen theoretischen Grundlagen sind, welche wir
erst nachtraeglich fuer sie zusammenraffen.  Schon unsere Sprache
sollte uns belehren, dass wir ein Leben lang unsere
Sprachfaehigkeit auszuueben vermoegen, ohne ueber das wie und
warum den leisesten Schimmer zu besitzen.  Von den
gesellschaftlichen Einrichtungen, von der Landwirtschaft, von der
Industrie gilt das Gleiche.

     Nur in Betreff der modernen Technik ist irgend Grund
anzunehmen, dass sie der theoretischen Grundlage beduerfen
moechte.  Sie bedarf ihrer und sie bedarf ihrer wieder nicht,
Genauer betrachtet hat auch die raffinierteste moderne Technik
eigentlich keine Begruendung in der Theorie.  Die Technik fusst
stets auf erkennbaren und erkannten Phaenomenen, auf
Erscheinungen fuer welche erst nachtraeglich eine theoretische
Erklaerung gefunden oder erfunden wird.

     Es ist ein in der aristotelischen Lehre wurzelnder Irrtum
vorauszusetzen, dass das Wissen in Begriffen aufgeht, und dass
die Begriffe die wissende Anschauung erst ermoeglichen.  Die
Kenntnis einer Sache kommt zustande nicht durch den Erwerb eines
begrifflichen Schemas, sondern durch die Angleichung (Anpassung,
homoiosis) desGemuets an das Neue das ihm begegnet.

     Die theoretische Erklaerung ist gewiss von Bedeutung; aber
ihre Bedeutung liegt nicht in der Vermittlung der Wirklichkeit.
Die theoretische Erklaerung ist vornehmlich ein Instrument der
Mitteilung.  Sie weist alle an ihr Beteiligten hin auf die
vorliegende Erschenungs- oder Wirkungsweise.  Sie bietet eine
gemeinsame Vorlage fuer die Deutung, fuer das Verstaendnis, und
ermoeglicht somit die Zusammenarbeit vieler Geister an einem
einzigen Vorhaben.

     Demgemaess dient die theoretische Erklaerung dazu aus vielen
Menschen ein einziges geistiges Werkzeug zu verfertigen.  Indem
die Wissenschaftler sich auf eine einige Theorie vereinbaren,
verbinden sich sich intellektuell zu einem einzigen
hocheffizienten geistigen Instrument, das bei weitem
leistungsfaehiger ist als irgend ein einzelner Wissenschaftler.
Die Wirksamkeit der Wissenschaft beruht nicht auf der Wahrheit
ihrer Begriffe noch auf der Wirklichkeit ihrer Vorstellungen,
sondern beruht auf dieser Zusammenfuegung verteilter
Intelligenzen in ein einziges machtvolles Werkzeug.  Es ist die
ungeheure Wirksamkeit der Wissenschaft als eines
gesellschaftlich-geistigen Instruments welche auf die
wissenschaftliche Theorie den Schein ontischer Gueltigkeit wirft,
ein Schein welcher jedoch der Untersuchung nicht standhaelt.

     Aber auch abgesehen von der gesellschaftlichen Bedeutung der
Wissenschaft als Verstaendigungsmittel, spielt die
wissenschaftliche Theorie im Denken des Einzelnen eine
wesentliche Rolle.  Denn das Gedaechtnis ist nicht imstande ohne
den Beistand einer Wissenschaft die Einzelheiten des geistigen
Erlebens zu bewahren und sie dem Einzelnen zur Verfuegung bereit
zu halten.  So dient die Wissenschaft dem Wissenschaftler als
Mitteilung seiner eigenen  Kenntnisse, Kenntnisse welche abwesend
wissenschaftlicher Theorie laengst in Vergessenheit verloren
gegangen waeren.

     Dass die wissenschaftliche Theorie die Zusammenwirkung der
Beteiligten ermoeglicht heisst aber lange noch nicht dass diese
Theorie die Erscheinungen und Erlebnisse welche sie widerspiegelt
begruendet; gewiss nicht in dem Sinne, dass diese Erscheinungen
und Erlebnisse aus der Theorie abzuleiten waeren.  Das sind sie
keinesfalls.

     Diese Erwaegungen sind von besonderer Bedeutung im Rahmen
der vermeintlichen Vervollkommnung der Wissenschaft.  Die
Wissenschaft sollte eine vollstaendige, erschoepfende Erklaerung
der Welt liefern.  Im siebzehnten, und vor allem, im achtzehnten
Jahrhundert meinte man den Weg zu einer solchen vollstaendingen
Erkenntnis der Natur vor sich offen zu sehen.  Mit Ungeduld sann
man darauf die erscheinende Natur mit einer errechneten zu
ersetzen.  Diese Erwartung aber barg ein schweres
Missverstaendnis und wuerde unvermeidlich zu wesentlichen
Irrtuemern fuehren.  Es ist nicht leicht (einfach) diese
Missverstaendnisse zu vermeiden oder zu umgehen, geschweige denn
die zu berichtigen wenn sie einst geschehen sind; so
ueberwaeltigend ist die Rolle welche das wissenschaftliche Wissen
in unserem geistigen Erleben spielt.  Besonders ist dies der Fall
weil das formelle Wissen, wie es uns in Zeitschriften, Buechern,
und Vorlesungen geboten wird, einen so bedeutenden Teil unseres
geistigen Lebens ausmacht.  Und doch ist es notwendig, um der
Integritaet und Gesundheit des Geistes Willen, das Wissen welches
sich als Wirklichkeit ausgiebt von unserem Gemuet fern zu halten;
stets nur das als intellektuell wirklich anzuerkennen, was
unmittelbar das Bewusstsein praegt; und alle anderen Behauptungen
und Ansprueche welche das Wissen an die Wirklichkeit stellt, als
ungehoerig einzuklammern, und zurueckzuweisen.

     Dieses Einklammern, die Epoche des vermeintlich Gewussten,
stellt die grosse schwierige Aufgabe des Erkennens dar.  eine
Aufgabe welche der Mensch nur langsam und mit Muehe zu
bewaeltigen lernt.  Diese Einklammerung zu bezeichne ich mit dem
Ausdruck Zweifel oder Skepsis.  Die gueltige wahrhafte Erkenntnis
erfordert das Zweifeln; und das Zweifeln ist um manches
schwieriger als das vermeintliche Wissen.  Deshalb ist es
notwendig, dass der Mensch sich im Zweifeln uebe.  Um in dieser
Aufgabe Klarheit zu gewinnen wird es vorerst notwendig sein den
Begriff Zweifel von ueberlieferten Missverstaendnissen zu
bereinigen.

                            * * * * *

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