20020731.01


     Kants Frage, "Wie ist Wissenschaft moeglich?" setzt voraus
nicht nur dass es Wissenschaft gibt, sondern auch dass diese
Wissenschaft erkannt ist, und so selbstverstaendlich geklaert,
dass irgendwelche Fragen worin denn Wissenschaft bestehen
moechte, oder was eigentlich Wissenschaft sein moechte, keiner
Eroerterung wuerdig erscheinen, weil jedermann weiss, dass es
Wissenschaft gibt und worin diese Wissenschaft besteht.  Diese
Voraussetzung aber ist unberechtigt.  Es erscheint mir eine
Schluesselaufgabe aller erkenntnistheoretischen Bemuehungen,
einzusehen, dass herkoemmliche Voraussetzungen betreffs des
Wesens der Wissenschaft unzulaenglich sind, und dass es deshalb
notwendig ist, diese Frage, was Wissenschaft denn sei, als bisher
unbeantwortet zu betrachten, um sie de novo, von Anfang an, noch
einmal zu durchdenken.

     Es ist notwendig zwischen Wissenschaft und Wissen zu
unterscheiden.  Wissenschaft ist die gesellschaftliche
Veranstaltung welche den einzelnen Menschen befaehigt sich an
einem gemeinsamen Erkennen der Welt zu beteiligen, somit zu einem
grossen gewaltigen geistigen Gemeinschaftsgefuege beitragend
dessen Wirksamkeit weit ueber die Faehigkeiten des Einzelnen
hinausgeht.

     Das Wissen aber ist etwas anderes als Wissenschaft.
Wissenschaft ist gemeinschaftlich; Wissen ist individuell.
Wissen ist das geistiges Erleben des Einzelnen.  Wissen ist die
geistige Faehigkeit mittels derer der Einzelne sich in seiner
Umwelt orientiert und diese Umwelt, seines Ueberlebens halber,
bewaeltigt.

     Und dieses Wissen als Beschaffenheit des Einzelnen hat
wiederum eine doppelte Bedeutung welche in den Redewendungen
Wissen was und Wissen wie zum Ausdruck kommt.  Wissen was,
bedeutet ueber einschlaegige Begriffe zu verfuegen; Wissen wie,
bedeutet ein Koennen, besagt die Faehigkeit zu gezielter
Handlung.

     Wahrend die Wissenschaft ihrem Wesen gemaess ein
gesellschaftliches Vorhaben sein muss, vermag das Wissen eine
geistige Beschaffenheit nur des Einzelnen zu sein.  Wissen ist
intellektuelle Taetigkeit des Einzelnen wie etwa Sehen, Hoeren,
Denken, Taetigkeiten des Einzelnen sind.

     Das Wissen des Einzelnen wird in dreifacher Weise
bestaetigt: Erstens wird Wissen durch seine gesellschaftliche
Annehmbarkeit bestaetigt, in dem Sinne, dass mein Wissen von
anderen Mitgliedern der Gesellschaft anerkannt wird und mit dem
Wissen anderer Gesellschaftsmitglieder uebereinstimmt.  Die
gesellschaftliche Bestaetigung des Wissens ist jedoch ein
fragwuerdiges Anzeichen seiner Gueltigkeit, denn obgleich die
Uebereinstimmung mit der Gesellschaft, mit der Wissenschaft also,
das Wissen des Einzelnen zu bestaetigen scheint, so ist
bekanntlich die Wissenschaft selbst verbesserungsbeduerftig; und
wird auch, ins Besondere, durch die Korrektur des Einzelnen
berichtigt.  Obgleich die Uebereinstimmung mit der Wissenschaft
das Einzelwissen zu bestaetigen scheint, bewirkt doch diese
Uebereinstimmung von Wissen und Wissenschaft als Voraussetzung
der Gueltigkeit des Wissens in gegebenem Falle eine Befestigung
des Irrtums.  Denn vieles das ungueltig ist empfaengt
gesellschaftliche Bestaetigung, und vieles Gueltige wird von der
Gesellschaft uebersehen oder abgewiesen.

     Zweitens beruht die Gueltigkeit des Wissens in seiner
Anwendbarkeit und Wirksamkeit, und dies auf verschiedenen Stufen.
Das Gewusste ist ein Werkzeug das den Einzelnen befaehigt eine
materielle Ordnung sowohl als auch eine geistige Ordnung
aufzubauen, mittels derer er in der Welt sein Zuhause hat.  Das
Gewusste befaehigt ihn, sich geistig in die Gesellschaft
einzugliedern.  Es befaehigt ihn in der Natur ausserhalb der
Gesellschaft seinen Weg zu finden.

     Drittens beruht die Gueltigkeit des Wissens in der
Bestaendigkeit und Wiederholbarkeit des Gewussten, und in des
Gewussten Bestaetigung und Bewaehrung durch wiederkehrende
Wahrnehmung.  So bewirkt das Wissen die Haeufung der Erfahrung
welche das menschliche Leben ueberhaupt erst ermoeglicht, und
dient in seiner Weise gegen die Vergaenglichkeit des Erlebens
aufzuwiegen.

     Die Wissenschaft hingegen ist und bleibt Ausdruck der
Gesellschaft, des Zusammenwirkens vieler Menschen.  Die
Wissenschaft beruht auf der Symbolik der Mathematik und vor allem
auf der Symbolik der Sprache, und ist ohne diese Symbolik
unvorstellbar.  Denn das Wesen der Wissenschaft ist die
Mitteilung geistiger Faehigkeiten, Mitteilung welche nur mittels
von Symbolen moeglich ist.

     Die Wissenschaft ist die phantastische Vorstellung
eines zusammenhaengenden, gegliederten und folgerichtigen
gesellschaftlichen Gedankengebaeudes, eines Gebaeudes das in
seiner Ganzheit nie und nimmer zustande kommt, welches sich
jeweils im Zustande bestaendiger Verbesserung befindet, und
welches, wenn man es zu ergreifen sucht, immer nur in
Vorlaeufigkeiten und Bruchstuecken verrieselt.  Auch ist es ein
folgenreicher Irrtum, die Wissenschaft als Errungenschaft des
Einzelnen oder auch nur als dem Einzelnen erreichbar zu
betrachten.  Dem Einzelnen gebuehrt nur das Wissen als reines
Koennen und als beschraenktes Beherrschen symbolisher Formen.

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