20020731.03

     Nur in Betreff der modernen Technik ist irgend Grund
anzunehmen, dass sie der theoretischen Grundlage beduerfen
moechte.  Sie bedarf ihrer und sie bedarf ihrer wieder nicht.
Genauer betrachtet hat auch die raffinierteste moderne Technik
keine eigentliche Begruendung in der Theorie.  Die Technik fusst
stets auf erkennbaren und erkannten Phaenomenen, auf
Erscheinungen fuer welche erst nachtraeglich eine theoretische
Erklaerung gefunden oder erfunden wird.

     Es ist ein in der aristotelischen Lehre wurzelnder Irrtum
vorauszusetzen, dass das Wissen in Begriffen aufgeht, und dass
die Begriffe das Wissen ueberhaupt erst ermoeglichen.  Die
Kenntnis einer Sache kommt zustande nicht durch den Erwerb eines
begrifflichen Schemas, sondern durch die Angleichung des Gemuets
an das Neue das ihm begegnet.  Die Tatsache einer solchen
Anpassung (homoisis) ist umso ueberzeugender, als sie nicht nur
im Geistigen zu beobachten ist, sondern auch in den
koerperlichsten aller Vorgaenge, wie zum Beispiel in dem Braeunen
der Haut wenn sie der Sonne ausgesetzt wird.

     Zweifelsohne sind theoretische Erklaerungen von Bedeutung;
aber diese Bedeutung liegt anderswo als in der Vermittlung der
Wirklichkeit.  Die theoretische Erklaerung ist als Abwandlung der
Sprache zu verstehen, und wie die Sprache ist sie vornehmlich ein
Instrument der Mitteilung unter den Menschen.  Die theoretische
Erklaerung wirkt als allgemeiner Hinweis an alle Beteiligten auf
bedeutsame Erscheinungen und Wirkungen.  Sie bietet eine
gemeinsame Vorlage fuer die Deutung, fuer das Verstaendnis, und
ermoeglicht somit die Zusammenarbeit vieler Geister an einem
einzigen Vorhaben.

     Demgemaess dient die theoretische Erklaerung dazu aus vielen
Menschen ein einziges geistiges Werkzeug zu verfertigen.  Indem
die Wissenschaftler sich auf eine bestimmte Theorie vereinbaren,
verbinden sich sich intellektuell zu einem einzigen
hocheffizienten geistigen Instrument, das bei weitem mehr zu
leisten faehig ist als irgend ein Wissenschaftler als einzelner
es je vermoechte.  Die Wirksamkeit der Wissenschaft beruht weder
auf der Wahrheit ihrer Begriffe noch auf der unbedingten
Gueltigkeit ihrer Vorstellungen, noch auf der Entsprechung zu
irgendeiner Wirklichkeit; sondern beruht auf dieser
Zusammenfuegung verteilter Intelligenzen in ein einziges
machtvolles Werkzeug.  Es ist die ungeheure Wirksamkeit der
Wissenschaft als eines gesellschaftlich-geistigen Instruments
welche auf die wissenschaftliche Theorie den Schein ontischer
Gueltigkeit wirft, ein Schein welcher jedoch der Untersuchung
nicht standhaelt.

     Zweitens, abgesehen von der gesellschaftlichen Bedeutung der
Wissenschaft als Verstaendigungsmittel, spielt die
wissenschaftliche Theorie auch im Denken des Einzelnen eine
wesentliche Rolle.  Denn das Gedaechtnis ist nicht imstande ohne
den Beistand einer Wissenschaft die Einzelheiten des geistigen
Erlebens zu bewahren und sie dem Individuum zur Verfuegung bereit
zu halten.  So dient die Wissenschaft dem Wissenschaftler unter
anderem auch als Mitteilung und Bestaetigung seiner eigenen
Kenntnisse, Kenntnisse welche in Abwesenheit wissenschaftlicher
Theorie laengst in Vergessenheit verloren gegangen waeren.

     Dass die wissenschaftliche Theorie die Zusammenwirkung der
Beteiligten ermoeglicht heisst aber lange noch nicht dass diese
Theorie die Erscheinungen und Erlebnisse welche sie widerspiegelt
begruendet; gewiss nicht in dem Sinne, dass diese Erscheinungen
und Erlebnisse aus der Theorie abzuleiten waeren.  Das sind sie
keinesfalls.

                            * * * * *

Zurueck

Weiter

Inhaltsverzeichnis