20020731.05

     Alles Wissen hingegen ist das beschraenkte Wissen des
einzelnen Menschen zu gegebener Zeit.  Dies Wissen des Einzelnen
ist ein provisorisches Koennen, ein Komplex von schwankenden ab-
und zunehmenden Faehigkeiten welche immer nur in ihrer Ausuebung
offenbart und bestaetigt werden.

     Die Gueltigkeit dieses Wissens des Einzelnen beruht auf
seiner unscheinbaren Abwandlung und Anpassung an jene Umwelt fuer
deren Einfluesse er empfaenglich ist.  Dieser Satz besagt kein
Geheimnis. Er spricht lediglich aus was jeder Mensch aus eigener
Erfahrung zu ermitteln und zu bestaetigen vermag.

     Die Beweise des unmittelbaren Einflusses der objektiven Welt
auf das subjektive Ich liegen auf der Hand.  Die ultravioletten
Strahlen der Sommersonne bewirkt eine Vermehrung der
melanintragenden Zellen.  So wird die Haut objektiv gebraeunt.
Ueberall draengen sich Zeugnisse auf ueber die Wirkung der
Aussenwelt auf Leib und Seele.  Die Speise saettigt; indessen
verursacht verdorbene Speise Uebelkeit.  Anstrengung ermuedet.
Erst das Erblicken von Gestalten bewirkt die Entwicklung des
Gesichtsvermoegens.  Ein abgedecktes Auge wird nie sehen.  Die
Melodie einer Musik dringt ins Gemuet um dort Veraenderungen
herbeizufuehren, welche den Hoerer befaehigen einst von selbst,
spontan, die gehoerte Melodie auf einem Instrument zu spielen
oder mit eigener Stimme zu singen.  Und die Sprache, vor allem
die Sprache, die Toene, die Worte, die Aussprache die ich hoere
wird verinnerlicht, und bewirkt Verwandlungen in mir, mag man sie
sich als koerperliche oder als geistige Verwandlungen vorstellen,
Verwandlungen jedenfalls welche mich befaehigen selbst zu
sprechen, mit denselben Worten in demselben Tonfall, mit
denselben Lauten mit welchen mir urspruenglich die Sprache ins
Ohr fiel.  Und wie es mit der Sprache und ihren Lauten geht, so
geht es mit anderem Lehrstoff auch.  Ich hoere ihn, ich lasse ihn
auf mich wirken, ich nehme ihn in mich auf, und er verwandelt
mich, macht mich tatsaechlich zu einem anderen Menschen der
hernach bei passender Gelegenheit dem einverleibten Lehrstoffe
Zeugnis ablegt.  Diese Aufnahme der Aussenwelt aber, diese
Verwandlung des individuellen Geistes durch die Aussenwelt, geht
unbewusst und unbeachtet vor sich, und oftmals unerkannt, Erst in
einem guenstigen Augenblick beweist das Wissen sich als zugegen,
und dann erscheint es unabhaengig von seinem Ursprung und seiner
Entwicklung wie ein unerklaerbares Geheimnis, wie ein Wunder.

     Die unbewussten unscheinbaren Eindruecke welche die
Beruehrung mit der Welt, mit der Umgebung am Menschen ausloest,
die Verwandlungen des Menschen welche auf Grund dieser Beruehrung
stattfinden, moegen mit den von Ernst Cassirer postulierten
symbolischen Formen verglichen oder diesen gleichgestellt werden.
Durch dieses Verfahren der unbewussten Abwandlung, der
unscheinbaren Anpassung des Menschen an seine Umgebung wird,
jedenfalls fuer mein Verstaendnis, die Gueltigkeit, die
Triftigkeit des Wissens erklaert.

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