20020803.00

     Dass die Subjektivitaet die Wahrheit sei ist eine
Feststellung welche in der modernen Philosophie am deutlichsten
von Kierkegaard behauptet wurde. Aber das Bekenntnis des
Sokrates, dass er nichts als sein Nichtwissen wuesste, und der
Entschluss von Descartes alles, was seinem Bewusstsein nicht
unmittelbar gegenwaertig waere, dem Zweifel zu unterziehen und
Schopenhauers Bestimmung, die Welt sei seine Vorstellung, sind
Zeugnisse aehnlicher, wenn nicht gar gleicher Einstellungen.

     Aus der Behauptung, dass die Subjektivitaet die Wahrheit sei
ist zu schliessen, dass das Gegenteil der Subjektivitaet, die
Objektivitaet, nicht die Wahrheit, dass die Objektivitaet also
die Unwahrheit sei.  Kierkegaard hat seine Behauptung, dass die
Subjektivitaet die Wahrheit sei, unmittelbar auf das seelische,
auf das religioese Erleben gemuenzt.  Er schreibt als ob die
anderen Bereiche menschlichen Erlebens, das taegliche Leben im
allgemeinen, die Bereiche der Politik, der Wirtschaft, der
Naturwissenschaft, ihm gleichgueltig waeren.

     Diese Gleichgueltigkeit ist den zeitgenoessischen Exegeten
kierkegaardscher Schriften nicht unwillkommen, denn es enthebt
sie der Notwendigkeit sich den logischen Folgen der
subjektivistischen Wahrheitsbestimmung zu stellen, Folgen aus
welchen man schliessen muesste entweder, dass die Subjektivitaet
in allen Bereichen des Erlebens die Wahrheit ist, oder aber dass
zwischen den seelischen und den nicht-seelischen Bereichen des
Erlebens ein absoluter qualitativer Unterschied bestuende.  Da
beide Schlussfolgerungen unannehmbar sind, ist man es zufrieden
sich mit der Unbestimmtheit der kierkegaaardschen Darlegung
zufrieden zu geben.

     Die herkoemmliche Lehren, auf allen Gebieten der
Philosophie, der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften,
wie bekannt, setzen alles auf die Objektivitaet und verpoenen die
Subjektivitaet.  Kierkegaards Behauptung des Gegenteils wird mit
der Entschuldigung verharmlost, dass er es eigentlich gar nicht
so gemeint hat, oder, wenn er es so gemeint hat, dann lediglich
im Bereiche der Religion, welche man verspottet mit der Annahme,
dass religioese Erwaegungen in den Bereichen des Wissens und
Handelns belanglos sind.  Die von Kierkegaard behauptete Wahrheit
der Subjektivitaet zu leugnen, ist jedoch unvereinbar mit der
gewaltigen Ueberzeugungskraft seiner Gedanken, Gedanken welche
man samt Ueberzeugungskraft hinweg erklaeren muesste, um die
beanstandeten Ungereimtheiten aufzuheben.

     Eine andere Loesung, und meines Erachtens eine
befriedigendere, waere den gesamten Bereich menschlichen Erlebens
im Lichte der kierkegaardschen Existenzbestimmung, so gut wie
moeglich bar jeglicher historischen Vorurteile, noch einmal, aufs
Neue, de novo, zu ueberdenken; in der Erwartung, dass mit dem
einen Ansatz eine auf allen Gebieten gueltige Antwort entwickelt
werden moechte.

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