20020805.00
PP  Aphorismen  zu  schreiben,  das  heisst, Tag fuer Tag nur das
niederzuschreiben  was  dem  unmittelbaren  Erleben   entspringt,
anstatt sich anzumassen ein verknuepftes Gedankengewebe zusammen-
zuhaekeln, scheint mir, unerwarteter  Weise,  der  Wahrheit  eher
guenstig  als umgekehrt.  Denn diese unmittelbare Bindung von Er-
leben und Ausdruck besitzt, fuer mein Empfinden jedenfalls,  eine
weit  staerkere  Ueberzeugungskraft (persuasiveness) als die mehr
konventionelle systematische Abhandlung welche den Gedanken nicht
an  das unmittelbare Erleben knuepft sondern an das was vor einer
Woche, vor einem Monat  oder  vor  einem  Jahr  niedergeschrieben
wurde,  das  man vielleicht heute selbst nicht mehr mit derselben
Klarheit durchschaut wie in dem Augenblick da man es in die  Tas-
tatur eingab.  So wird die Gedankenverbindung erzwungen, gewollt,
gekuenstelt;   und   bereitet   dem   Verstaendnis   des   Lesers
entsprechende  Schwierigkeiten.   Ich weise auf die Schriften der
Berufsphilosophen als Beleg.   Kant  zeigte  ihnen,  wie  man  es
machte.

     Bei diesen Betrachtungen kann ich nicht uebersehen, dass ich
selbst der Versuchung verfallen bin, Unterschiede zu
konstatieren, welche sich eher aus dem Gedankenschema als aus dem
Erleben ableiten lassen.  Die grossen Dichotomien von
Objektivitaet und Subjektivitaet, von Welthistorischer
Aeusserlichkeit und frommer Innerlichkeit sind mir ja
vorgeschrieben worden; und ich sollte mich nicht fuer sie zu
entschuldigen brauchen.  Eine von mir eingefuehrte Unterscheidung
aber scheint mir bedenklich: jene zwischen primaerem objektivem
Wissen, dem rilkeschen Wahrnehmen von einfachen Dingen, von Haus
und Baum und Wind und Meer, einerseits, und abgeleiteten,
sekundaeren Wissen das wir zum Beispiel den Lehrbuechern ueber
Architektur, Botanik und Metereologie entnehmen.

     Ueber den Nutzen oder Nachteil dieser, und aehnlicher
Unterscheidungen ist der Verfasser nicht, sondern nur der Leser,
in der Lage zu urteilen; ob die neuen Begriffe den Bereich des
Erkennens tatsaechlich erweitern, oder ob sie nichts mehr sind
als leere Verpackungen deren Inhalt zerstoben ist und die nunmehr
nur im Wege stehen.

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