20020807.05
Die primitive Frage der Erkenntnistheorie lautet: Was
bedeutet das Wissen und wie wird es erworben? Die laengeren
Antworten auf diese Fragen nehmen praktisch kein Ende. Die
kuerzeren Antworten lassen sich knapp mitteilen: Das Wissen ist
keineswegs ein Abbild, keineswegs eine Kopie der Welt. Das
Wissen ist eine Faehigkeit; es ist die Faehigkeit des Menschen
seine Umwelt in spezifischer konstruktiver Weise abzuwandeln.
Der Mensch erwirbt das Wissen, erwirbt die Faehigkeit seine
Umwelt in spezifischer konstruktiver Weise zu modifizieren, indem
er im Prozess der Anpassung erst selbst von seiner Umwelt zur
Handlungsfaehigkeit verwandelt wird. Demgemaess ist das Wissen
eine Anpassung, eine Angleichung, eine Homoiosis des Menschen an
seine Umwelt.
Diese Anpassung an die Umwelt wird durch die Umwelt
angeregt. Der Mensch, wie jedes andere Lebewesen ist fuer seine
Umwelt empfindlich. Diese Empfindlichkeit, eine Bedingung seiner
Lebensfaehigkeit, befaehigt den Menschen auf seine Umwelt zu
reagieren und sich ihr anzupassen. Sein Wissen ist der Ausdruck
seiner Anpassung an seine Umwelt. Die Abaenderung durch seine
Umwelt mittels welcher der Mensch wissend wird, mag man sich als
eine Aenderung des Geistes vorstellen, aber auch ohne jeglichen
Widerspruch als biochemischen oder biophysikalischen Vorgang, mit
dem Vorbehalt jedoch, dass der biochemische oder biophysikalische
Vorgang bisher unerforscht geblieben ist, und dass die
tatsaechliche Erforschung und gegenstaendliche Beschreibung eines
biochemischen oder biophysikalischen Vorganges keineswegs
Vorbedingung fuer die Gueltigkeit der vorgeschlagenen
Anschauungsweise sein sollte. Es ware eine Entstellung
(Verdrehung) erkenntnistheoretischer Verhaeltnisse, von seiten
der Biochemie oder Biophysik eine Begruendung oder Rechtfertigung
von unmittelbar anschaulich gegebenen Erkenntissen zu erwarten;
ebensowenig wie es einer Physiologie of Biochemie des Auges
bedarf um zu sehenr; ebensowenig wie es einer Neurologie bedarf
um zu denken, zu hoffen, zu traeumen, zu glauben oder zu
zweifeln.
Es ist mit Bestimmtheit vorauszusagen, dass die besagte
naturwissenschaftliche Erforschung der Erkenntnisvorgaenge das
Anpassungsphaenomen niemals in erschoepfender Weise beschreiben
wird; wenn nur weil die Einzelheiten der Anpassung in so
umstaendlichem und ausfuehrlichem Masse der Beobachtung
erschlossen sind, dass die naturwissenschaftliche Forschung, wie
erfolgreich sie auch immer werden mag, mit ihrer erschoepfenden
Analyse stets nachhinken wird.
Um die Behauptung der Anpassung (adaptation) als Vorrichtung
des Wissens zu rechtfertigen, mag hingewiesen werden auf das
Phaenomen der Stumpfsichtigkeit aus Verdeckung, amblyopia ex
anopsia. Das Auge welches bis zum vierten Lebensjahr verdeckt
bleibt entwickelt nur sehr beschraenkte Sehschaerfe. Wird ein
solches Auge aber vor dem fuenften Lebensjahr aufgedeckt und
seine Benutzung durch Deckung des anderen Auges erzwungen, dann
bewirkt tatsaechlich der optische Reiz der Bilder welche nun in
diesem bisher stumpfsichtigen Auge aufgenommen werden, die
Enwicklung des Sehvermoegens. Das Auge lernt sehen durch die
Bilder die es empfaengt. Man kann nicht umhin zu schliessen,
dass die empfangenen Bilder als spezifischer Reiz fuer die
Entwicklung des Auges wirken.
Ein noch allgemeineres Beispiel ist das Erlernen der
Sprache. Als ich mit neun Jahren nach Amerika kam, wusste ich
fast kein Wort Englisch. Ich besuchte dann eine Volksschule in
welcher nur Englisch gesprochen wurde. Binnen weniger Wochen
hatte die englisch-sprechende Umgebung in welcher ich jetzt
lebte, Veraenderungen in meinem Gemuet, Geist, Seele, Gehirn, man
nenne es wie man will, bewirkt welche mich die fremde Sprache zu
verstehen befaehigten, und darueber hinaus, welche mich in Stand
setzten die Fremdsprache selbst ueber die Zunge zu bringen mit
ebenderselben Aussprache, wie ich sie gehoert hatte. Es bedarf
keine ausschweifende Phantasie zu konstatieren, dass irgendwo in
meinem Gehirn das Hoeren der fremden Sprache chemisch-
physikalische Vorgaenge ausloeste, welche die Zellenstruktur
entsprechend verwandelte, und mich befaehigte Englisch zu lernen,
zu verstehen und zu sprechen.
Vergleichbare Veraenderungen in Geist oder Gehirn, - wie ihr
wollt, - werden von allen Reizen welche mein Wissen vermehren
bewirkt, sei es beim Erlernen der heimischen oder der fremden
Sprache, sei es im Erlernen mathematischer Formeln, sei es beim
Erlernen natur- oder geisteswissenschaftlicher Tatsachen, und am
aller bedeutendsten, im Lernen aus Erfahrung im weitesten Sinne.
Den Erwerb des Wissens auf spezifische Reize der Umwelt
zurueckzufuehren, darf keineswegs als eine Reduktion des
Geistigen auf koerperliche Vorgaenge gedeutet werden. Den
anderweitig unergruendeten Erscheinungen des Lernens wird keinen
Abbruch getan; sie werden nicht vereinfacht; sie werden
keineswegs auf bekannte oder gegenwaertig entdeckbare chemiche
ofder physikalische Vorgaenge reduziert. Die theoretisch
moegliche chemisch-physikalische Beschreibung liegt noch nicht
vor, liegt meines Erachtens in so ferner Zukunft, dass es
taeuscht sie ueberhaupt zu erwaehnen; und erwaehnen tue ich sie
nur um den vorliegenden Vorschlag betreffs der Entwicklung des
Wissens auch solchen Geistern ueberzeugend darzustellen, welche,
wie Platon sagte, nur das fuer wirklich halten, was sie mit
Haenden greifen koennen. Die Anderen, welche dergleichen
Beschraenkungen nicht unterliegen, sollten sich in ihrem
Verstaendnis durch den naturwissenschaftlichen Exkurs nicht
stoeren lassen.
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