20020808.00

     Bemerkenswert an Kierkegaards kritischer Abwertung des Welt-
historischen, wie er es nennt, ist dass er dieses objektive
Gebilde als ein Gegebenes anerkennt; dass er es unterlaesst im
Geiste Descartes zu fragen und zu forschen, wie sich dies Welt-
historische denn zur Innerlichkeit des Bewusstseins verhalten
moechte; dass er, kurzum, die erkenntnistheoretische Frage um die
Geschichte gaenzlich uebersieht.  Andernfalls haetten die
Beschraenkungen des Welt-historischen im Lichte der
Subjektivitaet sich von selbst dargetan, und es waere ihm
moeglich geworden, die unfruchtbare Auseinandersetzung mit dem
Begriff des Welt-historischen gaenzlich zu vermeiden.

     Dilthey und seine Schule haben erkannt, dass die
Autobiographie die Grundform der formellen Geschichte darstellt.
Sie waren aber von der literarischen Form dieses Genus geblendet,
in einem Masse das sie verhinderte darin den Pathos der
Erinnerung zu erkennen, mit all den peinlich anmutenden
Anmassungen des Gedaechtnisses, mit all seinen Schwaechen, und
vor allem mit seinen kunstvollen synthetischen Ergaenzungen des
nunmehr Unerreichbaren.

     Der Prototyp der Geschichte ist die Autobiographie: denn von
keiner Vergangenheit vermag ich so ausfuehrliche Kunde zu
ermitteln, wie von der eigenen; und die Beschraenkungen die ich
an meinem Wissen von der eigenen Vergangenheit erkenne, werden
sich an dem Wissen fremder Vergangenheiten in weit hoeherer
Potenz offenbaren.

     Was weiss ich denn von meinem eigenen Leben?  Was vermag ich
denn von meiner eigenen Person auszusagen?  Worin besteht meine
Erinnerung?  Liesse ich mich nieder in einem leeren Raum mit der
Aufgabe einen moeglichst erschoepfenden Bericht meiner selbst zu
verfertigen, was wuerde ich tun, wie wurde ich beginnen, wie
fortfahren?  Vermutlich wuerde ich mir stillschweigend, oder
nicht so stillschweigend so viel von mir erzaehlen wie ich aus
der Erinnerung heraufzuziehen vermoechte, und das waere eine
Anzahl mehr oder wenig zusammenhangsloser Schilderungen, die sich
hier und dort ueberlagerten und die sich mehr und mehr
wiederholten.  Bald aber wuerde die Erinnerung der Erzaehlung mit
der Erinnerung des Erzaehlten verschmelzen; und je dringender
mein Nachdenken, umso groesser die Wahrscheinlichkeit, dass meine
Geschichte sich selbst bestaetigte, und dass die Wirklichkeit die
ich zu entdecken meinte nicht mehr sei als eine groesstenteils
erfundene Geschichte.

     Um dieser Erfindung den Glanz der Wahrscheinlichkeit zu
verleihen wuerde ich Akten hinzuziehen, Urkunden, Bilder,
Photographien, Tonbaender vielleicht, um dem Gedaechtnisse
nachzuhelfen.  Aber die so erweckten Erinnerungen waeren
untrennbar an die Gegenstaende geknuepft die sie hervorgerufen;
und es wuerde zu einer heiklen Frage, ob ich mich der
Memorabilien erinnerte, oder dessen was sie bezeugten. Dass unter
solchen Umstaenden auch unechte Memorabilia Erinnerungen
hervorzurufen vermoegen, und dass diese entsprechend unechten
Erinnerungen im Prinzip von echten Erinnerungen nicht zu
unterscheiden sind, ist eine den Strafverteidigern wohlbekannte
Tatsache.

     Was bleibt nach so trueben Erinnerungen von der Zuversicht
auch nur einen Bruchteil der Vergangenheit aus dem Gedaechtnis in
die Gegenwart herueber zu retten uebrig? Sehr, sehr wenig, oder
garnichts.  Dann aber kommt, um die Leere der Erinnerung zu
verdecken, die Erzaehlung, die Geschichte, welche in Anbetracht
des Versagens des Gedaechtnisses, Erfindung sein muss, zugegeben,
oftmals sehr kunstreiche Erfindung, aber doch nichts mehr als
Erfindung.

     Diese Erklaerung macht jeglichen Anspruch der Geschichte auf
ein Ergreifen der Vergangenheit zunichte.  Denn es sollte
axiomatisch sein, dass was ich von der Vergangenheit anderer
Menschen zu konstatieren vermag, niemals buendiger sein kann, als
mein Ergreifen der eigenen Vergangenheit.  Mit dieser Einsicht
aber erreicht die sogenannte Philosophie der Geschichte ein
vorzeitiges Ende: denn sie beweist, dass in jedem tieferen Sinne
eine Geschichte der Vergangenheit unmoeglich ist.

     Was bleibt sind Urkunden und Artefakte.  Die Urkunden
heischen der Auslegung wie alle andere Literatur.  Die Artefakte,
wie andere Kunstwerke, wie Gemaelde, Radierungen, Zeichnungen,
stellen eine Wirklichkeit eigener Art (sui generis) dar, eine
Wirklichkeit zu welcher die einzig gueltige Beziehung eine
gleichzeitige sein muss.  Und indem Urkunden und Artefakte das
Vergangene in die Gegenwart uebersetzen, verriegeln sie die
Geheimnisse einstiger Zeiten mit unverbruechlichem Siegel.

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