20020808.01

     Die von John Stuart Mill vorgeschlagene, von Wilhelm Dilthey
hochgetriebene, und bis zum heutigen Tage anerkannte
Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und
Geisteswissenschaften besteht unter der selbstverstaendlichen
Voraussetzung, dass es Naturwissenschaften einerseits und
Geisteswissenschaften andererseits gaebe, und dass eine
Unterscheidung zwischen den beiden Arten Wissenschaft
tatsaechlich erkennbar und streng durchfuehrbar waere.

     Die Unterscheidung bleibt unangefochten zum Teil weil eine
jede der Wissenschaften von ihren Adepten ungeteilte Treue
(undivided loyalty) fordert.  Man ist entweder Biologe oder man
ist Historiker.  Beides Historiker und Biologe zu sein ist,
jedenfalls in der Berufswelt unmoeglich.  Demgemaess, da die
Biologie ihm fremd ist, setzt der Historiker voraus, dass der
Biologe anderen Gesetzen hoerig ist als fuer die
Geschichtswissenschaft geltend sind.  Ebenso setzt der Biologe
voraus, da die Geschichtsschreibung ihm fremd ist, dass der
Historiker anderen Gesetzen hoerig ist als in der Biologie
gelten.  Aus oberflaechlicher Sicht, moegen beide recht haben.

     Genauer erwogen aber liesse sich behaupten, dass der
Historiker in seiner Weise ein Biologe ist, und dass der Biologe
eine Art Geschichte treibt.  Dies klarzulegen braucht man nur zu
erwaegen, dass auch des Biologen Interesse auf Erscheinungen
gerichtet ist, welche in der Vergangenheit liegen, dass auch er
die Vergangenheit nur heraufzubeschwoeren vermag indem er davon
Geschichten erzaehlt, und somit tut er aehnliches wie der
Historiker.  Zugegeben, des Biologen Beschreibungen des
Vergangenen sind auf die Gegenwart gemuenzt und beanspruchen
Erscheinungen welche noch in der Erwartung liegen zu
illuminieren.  Zugegeben, dass der Biologe den Anspruch macht
mittels Untersuchungen der Vergangenheit die Gegenwart und auch
die Zukunft zu bestimmen.  Aber dieser Anspruch verfehlt nicht
selten sein Ziel.  Es bleibt ein Anspruch dessen Erfuellung
reichlich mit Unsicherheit behaftet ist.  Ist es mit dem
Historiker etwa anders bestellt?  Besagt es etwa ein
Missverstaendnis, dass die Biologen behaupten eine Geschichte der
Natur zu entwerfen und dass sie das Museum in welchem sie ihre
Arbeit ausstellen "Museum of Natural History" nennen?

     Aus aehnlichen Erwaegungen moechte hervorgehen, dass auch
seinerseits der Historiker Biologie treibt, insofern jedenfalls
als seine Geschichte die Chronik des Menschenlebens ist, und das
Stdium der Menschen, ihres Tuns und Treibens, aus der Biologie
nicht ausgeschlossen werden darf.  Mit welcher Begruendung dann
sollte man die biologischen Eigenschaften der Historie
verleugnen?  Muesste eine umfassende Geschichte des Menschen
nicht auch die Geschichte der Tiere und Pflanzen mit welchen er
das Erdrund teilt einschliessen?  Und waere eine solche Menschen-
Tier- und Pflanzengeschichte etwas anderes als die Geschichte des
Lebendigen, etwas anderes als die eigentliche Biologie?

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