20020808.02

     Eins der verhaengnisvollsten Vorurteile welche das Denken
des neunzehnten Jahrhunderts belastete, war die Vorstellung einer
Hierarchie der Wissenschaften in welcher man die Mathematik als
die erhabenste der Wissenschaften zu erkennen meinte, auf welcher
alle anderen Wissenschaften beruhen.  Die Wissenschaften zweiten
Ranges, wie etwa Physik und Chemie sollten auf die Mathematik
gegruendet sein, und ihrerseits die Wissenschaften dritten
Ranges, wie Psychologie und Soziologie tragen.  Dilthey hat einen
grossen Teil seines Lebens damit verbracht fuer die
Geisteswissenschaften im allgemeinen, und fuer die Geschichte ins
besondere, in dieser Hierarchie ihren Platz zu finden oder zu
schaffen; und hat sich eifrig um eine Psychologie bemueht welche
als Grundlage der Geisteswissenschaften dienen moechte.

     Diese Bemuehungen waren ergebnislos, weil sie nicht
gruendlich, nicht radikal genug waren; weil sie das Bestehen und
die Gueltigkeit der Naturwissenschaften, der Mathematik, der
Physik, u.s.w.  voraussetzten, und weil sie auch der Geschichte,
und besonders ihr, eines unberechtigte Integritaet zumassen. Wenn
es einem gelingt sich der Vorurteile ueber die Existenz und die
Gueltigkeit der verschiedenen Wissenschaften zu entwinden, wenn
es gelingt die wissenschaftliche Taetigkeit als die Taetigkeit je
eines einzelnen Menschen zu betrachten, dann zerfaellt der Rahmen
der Wissenschaftlichkeit, und das Lernen und Wissen und Lehren
erscheint als natuerliche, unvermeidbare Folge der geistigen
Anlagen mit welchen der Mensch ausgestattet ist; und diese
Anlagen, wie sie sich in den verschiedenen Wissenschaften
widerspiegeln stellen die Grundlagen dar aus welchen diese
Wissenschaften zu verstehen sind.

                            * * * * *

Zurueck

Weiter

Inhaltsverzeichnis