20021007.00

     Man unterscheide zwischen dem geistigen Vorgaengen des
Verstehens und des Deutens.  Die Kunst der Deutung
(interpretation) nennt man Hermeneutik.  Die Faehigkeit zu
verstehen hat, so viel ich mich besinne, keinen besonderen Namen.
Was waere es denn, das gedeutet oder verstanden werden sollte?
Nicht nur Schriften, sondern auch Reden, und darueber hinaus die
verschiedensten (symbolhaften) Zeichen und Vorgaenge in der
Natur, Orakelsprueche, Prophezeiungen, u.s.w., welche den
Menschen potentiell folgenreich erscheinen.  Verstehen und Deuten
beziehen sich auf dynamische (gesprochene) Symbolik sowohl als
auf statische (schriftliche) Symbolik.  Das Verstehen ist die
Faehigkeit des Einzelnen sich das ihm symbolisch dargebotene
anzueignen, in dem Sinne, dass es ihn zu weiteren triftigen
Ueberlegungen (Denken, Vorstellungen), zu weiterer geistigen
Taetigkeit, zu weiterem wirksamen Handeln befaehigt.  Die
Deutung, hingegen, ist ein auf einen zweiten Menschen gerichtetes
Erklaeren dessen was man vermutlich selbst schon verstanden hat.
Wenn es nahe liegt Verstehen und Hermeneutik zu verwechseln, so
ist dies der Fall, weil beide Begriffe auf die verteilte
Dunkelheit, Unverstaendlichkeit, Undeutlichkeit des Symbols,
dynamisch oder statisch, ausgesprochen oder niedergeschrieben,
anspielen, Undeutlichkeit die weit allgemeiner herrscht als man
zugibt und ueber deren Bestehen man sich, in idealisierendem
Schwung, grundsaetzlich, systematisch hinwegtaeuscht.

     Das Verstehen ist ein grundlegender geistiger Vorgang, in
welchem die verschiedensten Eigenschaften und Faehigkeiten des
Menschen zum Ausdruck kommen.  Das Merkmal des Verstaendnisses
ist die Vertrautheit mit dem Symbol und dessen wirksame
Gliederung in das Weltbild des Verstehenden.  Das Merkmal des
Unverstaendnisses hingegen ist die Fremdheit des Symbols und die
Unfaehigkeit des Nicht-verstehenden das Symbol in wirksamer Weise
in sein Weltbild einzugliedern.

     So sehr wir uns auch immer anstrengen zu verstehen; wie
angestrengt, bewusst und beabsichtigt unsere Verstehensversuche
auch immer sein moegen, so verbleibt es doch Tatsache, dass im
Grunde alles Verstehen das Ergebnis von unbewussten Vorgaengen
ist; dass es uns keineswegs moeglich ist das Verstehen eines
Symbols zu erzwingen, sondern, dass das Verstaendigwerden eine
unbewusste, unscheinbare Entwicklung ist, welcher wir, unserer
Natur gemaess unterliegen, und durch welche wir geistige
Faehigkeiten erwerben die letzten Endes fuer unser Leben und
Ueberleben in dieser Welt unentbehrlich sind.

     Es handelt sich um die unbewusste Angleichung an die Natur,
an unsere Umgebung, an unsere Umwelt.  Es ist eine Angleichung
welche die Struktur, den Bau, die Gestalt von Koerper und Geist
verwandelt, darueber hinaus aber auch deren Wirkungsweisen, deren
Funktionen.  Die Verwandlung der Funktionen welche im Verlauf des
Verstaendigwerdens vor sich geht ist um vieles eher erkennbar,
(is by far more readily recognizable,) als die Verwandlung der
Struktur, welche man meist nur durch Folgerungen (by inference)
festzustellen vermag.

     Aus dieser Darstellung werden die inbegriffenen
Schwierigkeiten der Deutung ersichtlich.  Denn dass ein Deutender
die Deutung an sich selbst richtete waere ueberfluessig, da er
ja, dem Vorsatz gemaess, sich schon im Besitz des Verstaendnisses
befinden muss, um ueberhaupt des Deutens faehig zu sein.  Die
Deutung, die Hermeneutik, muss sich also notwendigerweise an einen
zweiten Menschen wenden, von dem im voraus schon anzunehmen ist,
dass er das Verstaendnis nicht hat, denn haette er es, so waere
ja die Deutung ueberfluessig.

     Die Deutung also will den Nichtverstehenden verstaendig
machen, will dem, der das Verstaendnis nicht hat, das
Verstaendnis bescheren.  Dies ist ein Unternehmen mehr heikel und
fragwuerdig als an der Oberflaeche erscheint.  Denn das
Verstaendnis bekommt der Mensch ja durch einen natuerlichen
Vorgang, und es ist fragwuerdig inwiefern dieser natuerliche
Vorgang durch bewusste Bemuehung ersetzt oder auch nur gefoerdert
zu werden vermag.

     Was der Deutende aber tatsaechlich zu vollbringen scheint
ist nicht der Ersatz des natuerlichen Verstaendigwerdens durch
einen kuenstlichen beabsichtigten Vorgang, sondern die
Zusammenstellung (Synthese) einer neuen Klasse von Symbolen
welche zu den nichtverstandenen in derartiger Beziehung stehen,
dass sie das Verstaendnis des bisher Unverstandenen erleichtern
oder katalysieren.  Es ist als ob der, welcher das Verstaendnis
nicht hat, am Fusse einer Leiter steht deren Sprossen zu weit von
einander entfernt sind, als dass er die Leiter erklimmen koennte.
Nun kommt der Deutende und baut dem Nichtverstehenden in seine
Verstaendisleiter Zwischensprossen welche den Nichtverstehenden
zuletzt doch noch befaehigen die Leiter zu erklimmen.  In
gewisser Hinsicht ist aller Sprachgebrauch, sei er muendlich oder
schriftlich, erklaerend, und alle erklaerende Sprache ist
hermeneutisch.  Manchmal ist der Symbolkomplex welcher gedeutet
wird klar angezeigt; manchmal nur inbegriffen.  Jedoch setzt
alles sprachliche Erklaeren den Symbolkomplex der Sprache voraus,
ob diese symbolische Grundlage nun ausdruecklich dargestellt oder
lediglich inbegriffen ist.  Und insofern die sprachliche
Ausfuehrung, die Erklaerung also, einen rudimentaeren
Sprachschatz voraussetzt, welchen sie nun zu erweitern und zu
vertiefen beansprucht, ist diese sprachliche Ausfuehrung ihrem
Wesen nach deutend, ist als hermeneutisch.

                            * * * * *

Zurueck

Weiter

Inhaltsverzeichnis