20021009.00
Anwendung des Ausdrucks Wahrheit auf philosophische
Schriften ist eine heikle Sache. Dass ich auf eine Schrift
aufmerksam werde; dass ich mir die Muehe mache sie zu verstehen,
- auf allen Ebenen des Verstehens - besagt keineswegs, dass diese
Schrift wahr ist. Aufmerksam auf sie bin ich geworden, nicht weil
sie wahr ist, sondern weil sie beruehmt ist. Die Voraussetzung,
dass das Beruehmte das Wahre ist, dass der Ruhm die Wahrheit
versichert (vouches for), dass die Geschichte, der Verlauf der
Zeit (the passage of time) tatsaechlich wie ein Filter, wie ein
Filtrierungsmechanismus wirken sollte, welcher das Schlechte, das
Falsche, das Unwahre zurueckhaelt und nur das Gueltige an
kommende Generationen ueberliefert oder ueberleitet, ist eine zu
optimistische Annahme, welche keiner naeheren Untersuchung
(Inspektion) standhaelt. Der Beschluss ist unvermeidbar,
entweder, dass das was an uns ueberliefert wird ein grobes
Gemisch von Wahrem und Falschem ist, oder aber, dass es in
historischem Rahmen gueltige, verlaessliche Wahrheit ueberhaupt
nicht gibt.
Es scheint mir, dass beide Moeglichkeiten auf das Gleiche
hinauslaufen. Unleugbar ist dies: dass die Moeglichkeit der
Wahrheit ein notwendigesr Postulat, eine unvermeidliche
Begleiterscheinung meines Denkens ist: denn wenngleich, wie
Lessing betont, es mir nicht auf den Besitz der Wahrheit sondern
auf das Streben nach der Wahrheit ankommen muss, so ist dennoch
die Voraussetzung einer moeglichen Wahrheit meinem geistigen
(intellektuellen) Streben inbegriffen. Jedenfalls ist all mein
Denken an der Wahrheit wie die Magnetnadel am Nordpol orientiert;
wo bei es keinen Unterschied macht, dass es dem Denken unmoeglich
ist, je die Wahrheit in Besitz zu nehmen.
Es ist korrekt, dass die Ueberlieferung die Wahrheit nicht
enthaelt. Es ist fehlerhaft zu behaupten, dass die
Ueberlieferung uns ein grobes Gemisch von Wahrem und Falschem
biete, nicht weil das Gebotene wahr oder falsch waere, sondern
weil die Bezeichnungen wahr und unwahr in Betreff auf das
Ueberlieferte fehl am Platze sind. So ist die Folge, dass im
historischen Rahmen die Unterscheidung von Wahr und Falsch
ausfaellt: dass Wahrheit und Irrtum Ausdruecke sind welche sich
nur auf meine Bestrebungen anwenden lassen, und dies nur in
besonderer provisorischer Weise.
Zweifelsohne dient (fuehrt) diese Einsicht zu wesentlicher
Abaenderung der Deutung und Bedeutung des Ueberlieferten, fuehrt
zu einer Verminderung dessen Gewicht (gravamen) fuer mein Denken
und Erleben, befreit mich von der Tyrannei der Vergangenheit,
weist mich auf mich selbst zurueck, "troestet mich und macht mich
frei." Wie es mir denn auch unertraeglich waere in der Annahme
leben zu muessen, dass ein anderer Mensch einst, jetzt oder in
Zukunft im Besitz der Wahrheit sein sollte, dass die Wahrheit mir
aber verschlossen, vorenthalten waere. Dies "troestet mich und
macht mich frei," ist denn auch das Schluesselwort welches auf
den wahren Ort der Wahrheit hinweist. Es wird ja schon seit
Jahrtausenden behauptet, dass Gott die Wahrheit sei, ohne dass
notwendigerweise (necessarily) darauf hingedeutet wurde, welche
Folgen, welche Bedeutung, what implications, diese Behauptung,
diese Einsicht fuer das Leben des Menschen denn tatsaechlich
besitze.
Eine der Folgen dieser Einsicht ist, dass es auf die
Qualitaet des Ueberlieferten, - um von Wahrheit oder Unwahrheit
in dieser Beziehung jetzt zu schweigen, gar nicht mehr ankommt;
dass der Wert des Ueberlieferten fuer mich eben gerade der
Gebrauch ist, den ich davon zu machen vermag. Die Qualitaet
nicht der ueberlieferten Schrift, sondern die Qualitaet meines
Verstaendnisses fuer sie, ist worauf es ankommt.
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