20021010.02
Wenn ich ein puenktliches Gedaechtnis besaesse, ginge es
besser. Dann vermoechte ich mich auf jeden Satz den ich in den
letzten dreissig Jahren geschrieben habe, auf jeden Gedanken den
ich inzwischen erprobte, genau besinnen; dann vermoechte ich die
Vielfalt des Geschriebenen gehoerig zu sichten und zu ordnen, um
aus all den bedeutungslosen Kleinigkeiten - ratet nur! - (guess
what?) ein System zu schmieden. Ein System wie der herrliche
Baum vor meinem Fenster, mit Wurzeln tief in der Erde verankert,
mit einem maechtigen Stamm stark genug allen windigen Einwaenden
zu widerstehen, mit Aesten die in alle Himmelsrichtungen
zweigten, und schattigem Laub, aus welchem die Blueten der
Beredsamkeit und die Fruechte der Weisheit hervorglaenzten. Aber,
ach, es fehlt mir an dem Gedaechtnis, und darum muss ich auch auf
das System verzichten.
Ich troeste mich aber mit einer anderen Systematik, die sich
aus dem taeglichen Leben ergibt und dieses getreulich
widerspiegelt. Wenn ich des morgens erwache, so hab ich nur eine
neblige Ahnung was ich am gestrigen Tage oder in der gestrigen
Woche geschrieben habe. Setze ich mich hin um es zu ueberlesen
und zu ueberdenken, so sind mir die besten Stunden des Tages
vertan, und uebler noch, die tabula rasa des Gemuets ist befleckt
mit Gestrigem das die zarten unsicheren Gedanken des heutigen
Tages zu ersticken droht. So treibe ich es umgekehrt und mache
aus der Not eine Tugend: statt mit Vorbedacht das Vergangene
aufzusuchen, tu ich das Entgegengesetzte, begnuege mich mit dem
Einfall dieses Morgens, und beschreibe was und wie es mir ins
Gemuet dringt. Dabei ist es unvermeidlich, dass ich mich
wiederhole. Aber was wiederholt sich denn nicht? Folgt nicht ein
Tag, eine Woche, ein Monat dem anderen? Erwachen nicht in jedem
Fruehling die Pflanzen der Erde? Und ist nicht in diesen
Wiederholungen zu denen mich das schwache Gedaechtnis zwingt eine
Wahrheit ebenso gross und tief wie die Wahrheit des Systems, wenn
nicht gar groesser?
Das Denken ist ja kein Zusammenbasteln von Begriffen; es ist
eine lebendige Taetigkeit, wie ein Gesang der in veraenderter
Gleichheit immer und immer wiederkehrt. Gewiss, das Thema wird
wiederholt, aber Ansicht und Urteil, kaum wesenhafter als die
Wolken ueber dem Tal, werden sich wandeln wie sie. Wie der Fluss
Heraklits, der kein zweites Mal betreten werden kann, so bietet
sich kein Gedanke ein zweites Mal unveraendert an. Wer dies
bezweifelt ist vielleicht noch nie einem Gedanken begegnet.
Die provisorische und improvisierte Einladung an den
eventuellen Leser ist, sich nach eigenem Bedarf an diesem Denken
zu beteiligen; und eine solche Beteiligung, sollte ich meinen,
wuerde durch den Rhythmus der Wiederholung eher gefoerdert als
beeintraechtigt, angenommen dass es je einen wirklichen Leser
gaebe. Aber im Grunde ist mit dem Phantom des virtuellen Lesers
welches die elektronische Veroeffentlichung bewirkt mein Bedarf
an geistiger Gemeinschaft gedeckt; und ich wuensche dem
Abtruennigen der sich mit diesen Ueberlegungen nicht einlassen
will, eine mehr erbauliche Beschaftigung.
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