20021011.00

     In einer frueheren Eintragung habe ich die Systemlosigkeit
als Tugend gestempelt, und habe die Wahrheit der spontanen
anspruchslosen Erklaerung mit der erzwungenen Gueltigkeit des
formellen Systems verglichen.  Dazu gehoeren noch einige
Erlaeuterungen:

     Die spontane ungebundene Ausfuehrung erscheint zufaellig und
willkuerlich; sie ist stets genoetigt sich gegen die
unmittelbaren Ansprueche des Erlebens zu behaupten.  Sie ist
unter dem bestaendigen Zwang ihre Autoritaet zu verteidigen und
sich von den Nebensaechlichkeiten blossen Geredes zu
unterscheiden.  Das System hingegen empfaengt Autoritaet aus
seiner behaupteten Vollstaendigkeit.  Es hat es nicht noetig sich
zu verteidigen oder sich gar zu entschuldigen.  In seiner
Vollstaendigkeit birgt das System wesentliche Gefahren: Es
verleitet seinen Urheber zu eingekapselter Zufriedenheit mit sich
selbst und mit seinem Denken, zu taeuschender irrefuehrender
Genugtuung mit seinen Gedanken.  Gelingt es ihm diese Fallgruben
(pitfalls) zu vermeiden, dann ist es moeglich, dass sein System
zuletzt doch einen aesthetischen und logischen Wert aufweist,
vergleichbar mit dem Wert anderer symbolischer Gebilde.  Es
bleibt unbestimmt, wie hoch dieser aesthetisch-logische Wert im
Verhaeltnis zu den anderen Werten der einfachen ungegliederten
tagebuchaehnlichen Notizen mit welchen es bezahlt wurde.  Jedoch
ein Spiegelbild der Wirklichkeit wird es niemal sein.  Die nicht
geringe Gefahr des Missverstaendnisses, der fehlerhaften Deutung,
bleibt bestehen.  Je kunstgerechter das System veranlagt ist,
desto imposanter wird es sein, und desto groesser die Gefahr der
Ueberschaetzung und des Missverstaendnisses.  Denn schon die
Komplexitaet des Systems schuechtert den Leser ein; um es zu
begreifen muss er es analysieren, muss es sozusagen auseinander
nehmen, um sich von der Gueltigkeit der einzelnen Teile und ihrer
Verhaeltnisse zu einander selbst zu ueberzeugen.  Das ist eine
grosse, schwierige Aufgabe.  Die vielen Leser denen dies nicht
gelingt, vermoegen dem System nur auf Treu und Glauben
beizupflichten.  Ihnen verbleibt das System wie eine
unerreichbare Hochburg der Gedanken welche bewundert, verehrt,
aber selten verstanden und nie bewohnt wird, und in welche der
Leser sich nur auf Kosten grosser Unbehaglichkeit haeuslich
einrichtet.

     Dementsprechend ist mein persoenliches Vorhaben, meine
Gedanken so fragmentarisch aufzuzeichnen wie sie mir von Tag zu
Tag einfallen. Sie zu redigieren wie ich Zeit und Kraft habe, sie
in roher unverbluemter Gestalt im Internet zu veroeffentlichen;
und ganz zuletzt, wenn ich das Ende meiner Erfindung (invention)
erreicht habe, sie, so gut wie ich vermag, in ein provisorisches
System zu ordnen.

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