20021020.01
Das dialektische Verhaeltnis steuert nicht nur unsere
Erkenntnis. Die Ethik, so sinnwidrig es auch klingen mag, wird
gleichfalls von Dialektik beherrscht. Und insofern es ethische
Gewissheit (Wahrheit, certainty) gibt, wird diese Gewissheit
dialektisch sein: denn wie die Bibel unverhohlen erklaert: "wir
wissen nicht was wir beten sollen."
Es liegt in der sokratisch-platonischen Lehre der
Widerspruch, dass Sokrates zwar alles Wissen ableugnete, er
wusste lediglich, dass er nichts wusste, und doch dass er mit
Protagoras und Thrasymachus verhandelte als ob er, Sokrates,
betreffs des Wahren und Guten genauen Bescheid besaesse. Man
moechte diesem Widerspruch mit dem Einwand begegnen, dass das
Nichtwissen mit welchem Sokrates sich zierte sich auf das
objektive Wissen bezog, und dass das von Sokrates so
zuversichtlich behauptete Wissen um das Gute, das Wahre und
das Schoene ein subjektives Wissen war und als solches voellig
anderer Art und nicht vergleichbar (inkommensurabel) mit dem
Wissen, mit welchem die Sophisten hausierten. Damit wird der
Unterschied zwischen dem ethischen Wissen des Sokrates und der
Sophisten auf die Art der Belehrung zurueckgefuehrt; insofern
als die Sophisten ihren Schuelern lange Reden vorhielten,
indessen Sokrates seine Schueler auf das in ihnen schlummernd
verborgene Wissen hinwies, und dieses erweckte. Wenn das
Wissen welches Sokrates bei seinen Schuelern provozierte
gueltiger war als der Inhalt sophistischer Predigten, so mag
dies durch den Umstand erklaert werden, dass das von den
Sophisten gepredigte Wissen ein von aussen hinzukommendes,
anzulernendes war, im Gegensatz zu dem von Sokrates im
Gedaechtnis des Schuelers erweckte Wissen als Ausdruck, als
"Wiedererinnerung" lebenslang angeeigneter religioeser und
kultureller Werte.
Indem er nun ein Gegengewicht zu der sophistischen
rhetorischen Ethik schuf, hat Sokrates die Problematik der Ethik
keineswegs geloest, - im Gegensatz zu Christus der die Glaeubigen
von der Last des Gesetzes befreite, - sondern Sokrates hat
tatsaechlich die ethische Problematik erst aufgedeckt, wenn er
sie nicht sogar geschaffen hat. Vor Sokrates war das ethische
Bewusstsein des Einzelnen in das ethische Bewusstsein der
Gesellschaft eingebettet. Ohne Sokrates haetten die
sophistischen Lehren keinen Zwiespalt geschaffen. Sie haetten
sich in die herrschende Kultur eingefuegt, waren in ihr
aufgegangen, und haetten zu ihrer Verwandlung beigetragen.
Sokrates aber hat das im Schueler schlafende Bewusstsein erweckt
und hat es zum Kampf gegen die aeussere Ordnung was immer sie war
und wie immer sie sich verwandeln moechte, aufgehetzt. Diese
seelische Aufsaessigkeit haben seine Mitbuerger ihm nicht
vergeben. Zuletzt bezieht das "Kenne dich selbst" sich nicht nur
auf die Seele des Einzelnen; es bezieht sich auch auf den Geist
der Gemeinschaft.
Dergleichen Ueberlegungen moegen der Einsicht, dass wir
wirklich nicht wissen was wir beten sollen, zum Rueckhalt dienen.
Es liegt wohl in dem unseligen, oder jedenfalls verhaengnisvollen
Gemisch von Politik und Religion welches die Geistesgeschichte
bezeugt, dass wir uns zu Werturteilen gedraengt und gezwungen
fuehlen, welche weit ueber unsere geistigen Kraefte gehen. Wir
meinen, der ewigen Seligkeit halber, dass wir wesentlich sein,
und Gutes tun muessen; und dass, um befaehigt zu sein Gutes zu
tun, wir tatsaechlich wissen, was das Gute ist. Der Einwand ist
belanglos, dass es nicht die Handlung ist, sondern der Glauben,
welche die Religion, die protestantische, jedenfalls, von uns
verlangt. Denn der Glaube ist wesentlich, nur insofern er die
Handlung gebietet. Der bewusste Glaube als Lebensinhalt ist ein
das Leben durchdringendes und gestaltendes Bewusstsein, und ist,
insofern er unser Verhaeltnis zur Welt bestimmt, ja auch eine
Bestimmung der Handlung, und vielleicht die denkbar gewaltigste.
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