20021030.00
Eines ist es die Idealitaet von Wahrnehmung und Gedanken
als Ausdruck individueller Beschaffenheit zu deuten;
es ist aber etwas anderes und kaum minder bedeutsam
die Idealitaet der Begriffe als Ausdruck gemeinschaftlicher
Beschaffenheit zu verstehen. Man moechte auf die erste
Ueberlegung hin meinen, dass die vom Individuum erzeugte
Idealitaet der Vorstellungen unmittelbarer, greifbarer
und zugaenglicher sein sollte, als die andere, die
gemeinschaftliche Idealitaet welche aus dem Zusammenwirken
der Gesellschaft hervorgeht. Dieses Vorurteil fusst, wie mir
scheint, auf einem Missverstaendis der kartesianischen Reflexion:
weil ich mir selbst unmittelbar der Naechste bin, meine ich, dass
das individuelle Erleben, die von Individuum gestaltete
Idealitaet begreiflicher sein sollte als die von der
Gesellschaft gestaltete und gefoerderte Idealitaet. Bei dieser
Schlussfolgerung wird aber uebersehen, dass die geistige
Taetigkeit des Individuums tatsaechlich schon eine
gesellschaftliche ist, insofern als der Einzelne in
unverkennbarer Weise, Erzeugnis und Glied der Gesellschaft ist,
und dass die Gesellschaft sich am Individuum verwirklicht und
offenbart, und dass alles was der Einzelne zum Ausdruck bringt
nicht nur als Ausdruck des eigenen Wesens, sondern zugleich, und
vielleicht in hoeherem Masse, als Ausdruck der Gesellschaft die
das Individuum erzeugte gedeutet werden muss.
Dass das Individuelle zugaenglicher sein sollte als das
Gemeinschaftliche ist ein unberechtigtes Vorurteil, welches aus
dem Geist der kartesianischen Besinnung hervorgeht. Denn genauer
betrachtet ist auch die vermeintliche Erreichbarkeit des
Individuellen in grossem Masse Illusion.
* * * * *
Zurueck
Weiter
Inhaltsverzeichnis