20021109.00

Eine erkenntnistheoretische Eroerterung der Grenzen des Gesetzes.

     Die erschuetternde Einsicht, dass die Erfuellung der Gesetze
dem Menschen unmoeglich ist; und der entsprechende Beschluss,
dass in letzter Instanz alles Rechten Unrecht, dass alles
Rechthaben Irrtum ist; dass das Gesetz und die Gesetzmaessigkeit
des Handelns den Menschen als Ideal, als verfuehrerische Fata
Morgana vorschwebt; und dass alle Vollstrecker der Gesetze sich
demgemaess als betrogene Betrueger entpuppen, diese Einsicht
steht in auffallender Parallele zu jener anderen grossen
Entidealisierung, der Erkenntnis naemlich, dass Wissen im
ideellen Sinne auch eine Unmoeglichkeit ist, der sokratischen
Einsicht dass das Einzige was ich wissen kann, ist, dass ich
nichts weiss.

     Wenn, wie Platon behauptet, kein Mensch wissend unrecht tut,
und wenn also die Tugend im Wissen begruendet ist, dann ist das
Bekenntnis des Unwissens, sei es nun sokratischer oder
kartesischer Art, vergleichbar mit der Bekenntnis der Ohnmacht
des tugendhaften Handelns, mit dem Bekenntnis also der Ur-, der
Erbsuende.

     [Wenn ich ihn recht begreife, so ist Kant ueber die
Konsequenzen einer radikalen Skepsis nie ins Klare gekommen; und
seine naive Voraussetzung, dass Wissenschaft moeglich sei
entspricht seiner naiven Voraussetzung dass die Befolgung eines
kategorischen Imperativs moeglich sei.  Weit triftiger als die
Begriffsklauberei waeren die Eingestaendnisse, dass letzten Endes
Wissenschaft unmoeglich ist, und das Gute als Idealisierung dem
Menschen unerreichbar.]

     Die Hinfaelligkeit des Wissens und die Hinfaelligkeit des
gesetzmaessigen Handelns, verknuepft in ihrem Erscheinen,
(conjoined in their appearance) haben auch, wie mir scheint, eine
entsprechende (corresponding) Grundlage im Geiste des Menschen.
Denn die behauptete Stichhaltigkeit des Gesetzes nicht weniger
als die behauptete Gueltigkeit des Wissens beruht auf
Idealisierung; beruht auf der Neigung, auf dem menschlichen Trieb
die Bruchstuecke geistigen Erlebens zu vervollstaendigen und in
ein nahtloses (seamless) Ganze einzufuegen; beruht auf dem Wahn,
dass dieses idealisierte nahtlose Ganze eine verlaessliche
brauchbare Wirklichkeit darstelle.  Die brauchbare, gueltige
Wirklichkeit, sei es des Wissens oder des Gesetzes, ist ein
Missverstaendnis, von Rilke beklagt: "Und die findigen Tiere
merken es schon, dass wir nicht sehr verlaesslich zuhause sind in
der gedeuteten Welt."

     Die Hinfaelligkeit der Gesetze im praktischen Handeln, im
taeglichen Leben, ist unverkennbar.  Die vermeinte Gesetzlichkeit
der Welt ergibt sich unmittelbar aus der Sprache der Menschen als
Instrument des Zusammenwirkens.  Zu verstaendigen vermoegen die
Menschen sich nur mittels von Begriffen: Begriffe aber sind ihrem
Wesen nach entschieden, bestimmt und begrenzt.  Begriffe sind
also ihrem Wesen nach idealhaft.  Das Erleben wird den Menschen
nie gemeinsam sein; ihre Begriffe (Ideale) aber werden ihnen
immer gemeinsam sein, und ausser den Begriffen (Idealen)
verfuegen sie ueber keine gemeinsame Wirklichkeit.

     Es ist eine bemerkenswerte Parallele zwischen der
Unerfuellbarkeit des Gesetzes und der Unerkennbarkeit der Welt.
Prinzipiell unerfuellbar ist das Gesetz nicht wegen der Schwaeche
des suendigen Menschen.  Es ist unerfuellbar weil das Gesetz in
seiner Spezifizierung (Besonderung) die wirklichen Umstaende der
Handlung ebensowenig zu ergreifen vermag, wie unser vermeintes
Wissen die Wirklichkeit des Gewussten ergreifen kann.

     Die Schwaeche des Menschen liegt nicht in seiner
Unfaehigkeit ein intelligibles (verstaendliches) Gesetz zu
befolgen, sondern in seiner Unfaehigkeit ein befolgbares Gesetz
zu entwerfen.  Die vermeintliche Erfuellbarkeit des Gesetzes ist
Illusion, ist Taeuschung.

     Wie die Verstaendlichkeit einfacher Benennungen: dies ist
ein Haus, ein Baum, ein Blatt, u.s.w., die potentielle
Verstaendlichkeit verwickelter begrifflicher Entwuerfe, dies ist
der Aether, dies ist ein Atom, ein Elektron, ein Lichtjahr, ein
schwarzes Loch, u.s.w., bestaetigen soll; so soll das einfache
Gesetz: Du sollst dieses oder jenes tun oder unterlassen, die
potentielle Gueltigkeit von Gesetzen ueberhaupt verbuergen.  Aber
wie auch die einfachsten Gegenstaende sich als unbestimmt und
unbestimmbar erweisen, eine Unbestimmbarkeit welche deutlich
hervortritt im Betrachten ihres Entstehens und Vergehens, so sind
auch die einfachsten Gesetze, man nehme die Zehn Gebote als
Beispiel, mit Unbestimmbarkeit behaftet: denn was heisst keine
anderen Goetter neben dem Einen zu haben, was heisst den Namen
seines Gottes nicht zu missbrauchen, was heisst am Sabbath kein
Werk tun?  Was heisst Vater und Mutter ehren? u.s.w.  Schon die
Unterschiedlichkeit der Uebersetzungen bestaetigt die
Unbestimmbarkeit des Gesetzes.

     Der Zwang des Gesetzes ist nicht der Zwang des Wortes, des
Begriffes, oder des Geistes.  Es ist vielmehr der
gesellschaftliche Zwang welcher heute diese, morgen die andre
Handlungsweise vorschreibt.  Die Tradition des anglo-
amerikanischen Ueblichen Rechtes, the common law, ist
fortwaehrende Umdeutung der Begriffe um sie unter gegebenen
Umstaenden brauchbar zu machen.  Weil Gesetze ihrem Wesen nach
unbestimmt bleiben muessen, beduerfen sie unablaessig neuer
Interpretation.  Deshalb haben Richter Befugnis nach ihrem
Gutduenken zu urteilen, als ob solches Gutduenken das Gesetz
vertreten koennte.

     So ergibt sich zwischen Jesus und Sokrates eine unerwartete
Parallele.  Es liegt eine tiefere Wahrheit als augenscheinlich
ist in der Anbetung des Sokrates als einen Heiligen: "Sancte
Sokrate ora pro nobis," ist gerechtfertigt insofern als Sokrates
die Menschen befreite in einem Sinne der durchaus vergleichbar
ist, mit dem Sinn in welchem Jesus die Menschen befreite, dieser
vom unechten Gesetz, jener vom unechten Wissen: und die
Unechtheit des Wissens und die Unechtheit des Gesetzes haben
dieselbe Grundlage in der idealisierenden Natur des Menschen.

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