20021130.00

     Der Individualisierung welche sich von Sokrates
Nichtwissensbekenntnis, von Davids Psalmen und Hiobs Klage, von
der Zuruecknahme der juedisch-gesetzlichen Vergesellschaftung
durch Christus - zu den Mystikern und zu Cartesius zur Romantik,
zu Kierkegaard und Rilke erstreckt, stellt sich die unentrinnbare
Tatsache der Vergesellschaftung gegenueber.

     Die Erkenntnistheorie schaetzt die (wenn auch truegerische)
Zugaenglichkeit (accessibility) des Individuums, das sich
vorstellt zu beliebiger Zeit und zu beliebiger Tiefe in sein
Innerstes hinab zu steigen zu vermoegen, um sich dort eines
ungezaehlten und ungemessenen Vorrats an Erinnerungen,
Empfindungen, und ganz im allgemeinen, an seelischen Wahrheiten,
in aeusserster geistiger Gueltigkeit zu bedienen.

     Die Gesellschaft hingegen, begrifflich an Ort und Ausmass
weniger bestimmbar, scheint um manches entlegener.  Ins besondere
problematisch ist die Unbestimmtheit der Verallgemeinerungen die
sie nach sich zieht.  Der Einzelne, das Individuum, das Ich, wie
fragmentarisch auch immer, wird als das unmittelbar zugaengliche
Bewusstsein allzeit gegenwaertig empfunden.  Ein
Gesellschaftsbewusstsein, hingegen, ist um manches unbestimmter
und umstaendlicher.  Die Grenzen und Eigenschaften des Ichs
werden unmittelbar vom Bewusstein bestimmt; aber nur eine
ungezuegelte und letzthin unkontrollierbare Vorstellung bestimmt
die Gesellschaft, ihre Beschaffenheit und ihre Grenzen: all dies
in sehr unzulaenglicher und letzthin unbefriedigender Weise.

     Am sinnvollesten (und ergiebigsten) moechte es sein beides,
das Bewusstsein meiner selbst und meine Vorstellung von der
Gesellschaft als geistige Vorgaenge, als Prozesse, wenn man will,
als Wirkungsweisen, als Funktionen, als Uebungen, als Etudes oder
Essais zu bewerten, als etwas das man tut ehr als etwas das man
ergreift, als Lieder die man sich immer und immer wieder
vorsingt: als Gedichte die man sich im Stillen wiederholt, die
ihren Sinn haben nicht in dem Gegenstandlichen aus das sie
hindeuten, sondern in der unablaessigen geistigen Taetigkeit die
sie herausfordern (provoke).

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