20021224.00

     Um zu lernen muss man erlebt haben.  Und um erlebt zu haben
muss man gelebt haben.  Um viel gelernt zu haben, muss man viel
erlebt haben.  Um viel erlebt zu haben, muss man lange Zeit
gelebt haben.  Je laenger man lebt, desto mehr Gelegenheit zu
lernen.  Ich will nicht behaupten, dass ein langes Leben
Voraussetzung fuer gueltiges Wissen ist, aber es hilft.

     Je laenger man lebt, je mehr man erlebt, desto vielfaeltiger
sind die Gedanken ueber Gott oder das Goettliche, desto mehr hat
man ueber Gott zu sagen.  Ob sie umso gueltiger sind, ist eine
andere Frage.  Ich will aber keineswegs behaupten, dass das Viele
das im Laufe eine langen Lebens ueber das Goettliche ausgesagt
wird, wahr oder gueltig waere.  Im Gegenteil, je mehr man
schreibt, je mehr man denkt, desto groesser ist die Gefahr, dass
was aufs Papier kommt lauter Unsinn ist.

     Meine Theologie fusst auf der Beobachtung, dass der Mensch
wenn nicht Gottes doch zum mindesten der Gottesvorstellung
bedarf.  Der Mensch erfindet seinen Gott; oder gesetzt dass Gott
unabhaengig vom Menschen bestuende, so verputzt der Mensch
dennoch die Gottesvorstellung nach seinem Bedarf, seinen
Beduerfnissen gemaess; so dass der wirklich existierende, der
transzendentale Gott, der unerreichbare, unbegreifbare letzten
Endes doch nur Vorwand bleibt fuer des Menschen willkuerliche
Erfindung.  In diesem Sinne waeren Gott und das Goettliche
Zubehoer zum Menschlichen Dasein.

     Der Mittelpunkt des Christentums, die Feststellung, dass
Gott Mensch zu werden genoetigt war, dass Gott Mensch wurde, ist
letzten Endes Zeugnis (evidence) fuer die Unzulaenglichkeit der
Gottesvorstellung.  Denn wenn mit der Gottesvorstellung alles in
Ordnung gewesen waere, dann waere ja das Menschwerden Gottes
ueberfluessig, unnoetig gewesen.

     Es ist erlaubt, vielleicht ist es sogar geboten, Jesus als
Menschen zu betrachten, und demgemaess das Menschliche an
Christus hervorzuheben, zu betonen, in den Vordergrund zu
ruecken; Wenn nur, weil es lediglich das Menschliche ist, dass
wir zu begreifen vermoegen: auch das Goettliche wird ja
bekanntlich entweder als transzendental, und demgemaess uns
unbegreiflich, oder aber als anthropomorpisch aufgefasst.  Denn
das wahrhaft Goettliche ist hier auf Erden, wie im Himmel
unbegreiflich.

     Als Mensch betrachtet, muss Jesus ja auch eine Beziehung zu
Gott, zu seinem Gott haben.  eine Beziehung welche vergleichbar
ist mit der Beziehung anderer Menschen zu Gott.  Und diese
Beziehung ist nun einmal uebermaessig intim: die erlebte
Intimitaet dieser Beziehung kommt darin zum Audruck, dass Jesus
sich als Sohn Gottes empfindet.  Dass er sich als Gottes Sohn
erkannte.  (Oder stehen Soehne ihren Vaetern nicht so nahe?)
Diese filiale Beziehung zu Gott wirkt dann als die aeusserste
Personifizierung Gottes.

     Gottes Sohn zu sein, hiesse das nicht mit ihm in engster
Intimitaet vertraut zu sein?  Hiesse das nicht so viel wieeines
zu sein mit Gott, bedeutete das nicht, dass Gott ein Teil der
Persoenlichkeit des Menschen waere, dass Gott im "Inneren" des
Menschen existierte: und wenn dies der Fall waere, was waere die
Inkarnation anders als notwendige unentbehrliche Verinnerlichung
Gottes, will sagen, die notwendige Subjektiviering Gottes, die
Uebersetzung Gottes aus dem Bereich des Oeffentlichen ins Innere
des Menschen, in sein Denken, Fuehlen und in sein Wesen.

     Demgemaess lassen sich die Erscheinung und die Kreuzigung
Christi als Ausdruck des Konfliktes zwischen aeusserlicher und
innerlicher Religion erklaeren. Die behauptete Innerlichkeit war
mit den Forderungen einer oeffentlichen Religiositaet
unvereinbar. Zugegeben, ist die Ausdrucksweise, das Idiom, des
neuen Testaments von der modernen Ausdrucksweise voellig
unterschieden.  In dialektischer Weise, aber ist dies Bedrueckung
von seiten der Gesellschaft welche im Gesetz seinen Ausdruck
findet, ununterscheidbar von der Bedrueckung durch die
Gesellschaft welche Jesus erlitt.

                            * * * * *

Zurueck

Weiter

Inhaltsverzeichnis