20030305.00
Ueberall sind Fahnen. Man vermag ihre Schatten nicht zu
umgehen. Sie flattern von neu errichteten Stangen vor den
Nachbarshaeusern. Als Plakate schmuecken sie die
Fensterscheiben der Autos, deren Insassen ungeduldig sind
ihre Gesinnungen zu bekunden. Im Ortszentrum haben die
Behoerden an jede Strassenlampe eine Fahne gespannt, als
Mahnung oder Drohung die Regierung auf ihrem Kriegskurs zu
unterstuetzen. Ich weiss, nicht, ob es auch im Deutschen
die Redensart gibt, dass der alternde Mensch eine zweite
Kindheit, a second childhood erlebt. Ich jedenfalls erlebe
sie jetzt.
"Heute gehoert uns Deutschland, morgen die ganze Welt."
so widerhallte das Lied, mit welchem die Hitlerjugend durch
die Strassen marschierte. Setzt "Amerika" fuer
"Deutschland" und du hoerst das selbe Lied. Und in Amerika
hoert nicht nur keiner auf eine Kassandra; es gibt
ueberhaupt keinen der von Kassandra weiss. Doch mussten
wegen diesem Hochmut und Wahn das alte Braunschweig und
Hildesheim und Luebeck und Dresden in Asche liegen. Dabei
klingt vertrauter als seit vielen Jahren der Chor der
Gefangenen im Fidelio: Sprecht leise, haltet euch zurueck,
wir sind belauscht mit Ohr und Blick. Und erschreckender
noch als der Verlauf der Politik ist die Dummheit oder die
Schlechtigkeit der Menschen welche gegen das Geschehen
gleichgueltig ist.
Meine Schwester die bald 75 Jahre alt sein wird, faehrt
im Autobus nach New York um an den Friedensprotesten teil zu
nehmen. Ich erkenne beschaemt, dass ich das nicht vermag,
und weiss nicht warum ich mich dieser Pflicht entziehe, wenn
es ueberhaupt eine Pflicht ist. So wenig wie ich anderen
Menschen in Sachen der Religion, zum Beispiel, meine Ansicht
aufdraenge.
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