20050118.00
"Herr vergibt ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun."
Wir handeln in Erwartung der Folgen unserer Handlung.
Entsprechen die tatsaechlichen Folgen unseren Erwartungen, so
meinen wir, dass wir willentlich, freiwillig handelten, dass die
Handlung unserem Willen entsprach. Entsprechen die
tatsaechlichen Folgen nicht unseren Erwartungen, so meinen wir,
dass wir unwillentlich, unfreiwillig handelten, dass die Handlung
nicht unserem Willen entsprach.
In jedem Falle wird die entscheidende Frage sein, Wie hat
die Erwartung die Handlung beeinflusst? War der Handelnde sich
dieses Einflusses bewusst? Ist es nicht vorstellbar, wenn nicht
gar wahrscheinlich, dass die entscheidende Wirkung mittels
welcher die Handlung bestimmt wird eine unscheinbare und
unbewusste Bereitschaft sein moechte?
Ich urteile, dass ich willentlich handele wenn das Ergebnis
meiner Handlung meiner Erwartung entspricht. Ich urteile, dass
ich unwillentlich handele wenn das Ergebnis meiner Handlung
meiner Erwartung nicht entspricht. Es ist mir aber unmoeglich
voraus zu bestimmen ob mir die bevorstehende Handlung willentlich
oder unwillentlich erscheinen wird. In Erwartung also,
vorausblickend, ist es unbestimmt, ob eine Handlung freiwillig
oder unfreiwillig erscheinen wird. Nur im Rueckblick wird es mir
moeglich sein zu bestimmen dass die Folgen meiner Handlung meinen
Erwartungen entsprachen, dass was ich tat eben das war, was ich
tun wollte. Nur im Rueckblick kann mir meine Handlung freiwillig
erscheinen. Nur im Ruecklick ist der Wille frei. So entsteht
das Janusproblem vom freien-unfreien Willen.
Das Ausmass und die Qualitaet des vermeintlich freien
Willens haengen also nicht nur von der Handlung als solcher,
sondern von der Verlaesslichkeit der Erwartung und von der
Glaubwuerdigkeit der Wahrnehmung, von der Qualitaet des
Begreifens ab.
Die Einwirkung, der Mechanismus, wodurch die Bereitschaft
(Erwartung) die Handlung verursacht, bleibt unbestimmt, und
groesstenteils unbestimmbar, denn genau betrachtet entspringt
alle Handlung einem Unterbewusstsein, oder Unbewusstsein; genau
betrachtet ist alle Handlung spontan. Sogar der durch den Aufruf
"start" oder duch den Pistolenschuss ausgeloeste Ansprung des
Laeufers (the runner) folgt nicht auf eine bewusste
Gehoerwahrnehmung des Schusses. Im Gegenteil, der Ansprung des
Laeufers ist Folge der unbewussten Einwirkung des Schalls auf das
motorische Nervensystem. Und jeder, der je bei einem
unerwarteten Knall zusammenzuckte, weiss dass er zuckte eh er den
Knall im Gehoer vernahm. So etwa auch ein Jaeger, der
unwillkuerlich auf einen anderen Menschen losschiesst, weil
dieser als eine Gestalt in seinem Gesichtsfeld auftaucht, und als
undifferenzierte Erscheinung den Schuss ausloest, wo
Millisekunden spaeter, die angeschossene Gestalt als eine
menschliche erkannt worden waere. Ganz im allgemeinen, wenn
Handlung verlangsamt wird, bekommt die wahrnehmende und
ueberlegende Erkenntnis Gelegenheit, die Bereitschaft des
Handelnden und somit die Handlung genauer zu bestimmen. Dabei
bleibt die Kontrolle der Handlung durch die Erkenntnis
groesstenteils, wenn nicht gaenzlich, unbewusst. Trotzdem sind
im gewoehnlichen Verlauf des Lebens, Erkenntnis und Handlung so
innig miteinander verwoben, dass man sich, abgesehen von
Ausnahmefaellen, alle Handlung als willentlich vorstellt.
Im Falle des Laeufers der auf den Schuss mit einem
Davonsprung reagiert, ist die Handlung durch die Bereitschaft
bestimmt. Des Laeufers Reaktion ist durch eingeuebte
Bereitschaft vorbereitet. Ein noch eindrucksvolleres Beispiel
von handlungsgestaltender Einuebung ist die Situation des
Trompeters, der beim ersten Taktschlag (downbeat) des Dirigenten
zu blasen anhebt. Sowie die Handlungen des Musikers ueberhaupt,
ist ins besondere diese Reaktion, durch wiederholte Uebung
vorbereitet.
Es ist bemerkenswert zu betrachten, dass wo ueberhaupt keine
Einuebung, keine anschauliche Vorbereitung geschieht, die
Handlung als unfreiwillig gilt, wie etwa wenn ich in der
Finsternis der Nacht auf unbekannter Landstrasse in den Graben
falle; dass aber wo ein Uebermass an vorbereitender Einuebung
stattgefunden hat, die Handlung auch als unfreiwillig gilt, wie
zum Beispiel die Ausfuehrung der einzelnen Note eines rapiden
Trillers auf einem musikalischen Instrument. Am freiwilligsten
erscheint die Handlung, welche durch Ueberlegung verlangsamt ist,
vielleicht fast bis zur Laehmung, wie zum Beispiel in
Shakespeares Hamlet musterhaft dramatisiert.
Aus diesen Ueberlegungen ergibt sich, dass es nicht die
Handlung ist welche von den Gerichten bestraft wird, sondern die
geistig-seelische Verfassung des Handelnden. Man wird bestraft
nicht fuer was man tut, sondern fuer wer man ist. Der
gesetzestreue Mensch ist derjenige dem die Gesetzesdrohungen zum
Bestandteil des Gemuets geworden sind; dessen spontane Handlungen
dementsprechend die Gesetzesdrohungen beruecksichtigen. Der
Verbrecher hingegen ist derjenige der von den Gesetzesdrohungen
unberuehrt bleibt; dessen spontane Handlungen dementsprechend die
Gesetzesdrohungen nicht beruecksichtigen. Der Unterschied
zwischen dem Gesetzestreuen und dem Verbrecher ist nicht, dass
der Gesetzestreue "freiwillig" die Gesetze befolgt, waehrend der
Verbrecher "freiwillig" die Gesetze verschmaeht. Der Unterschied
zwischen dem Gesetzestreuen und dem Verbrecher ist, dass die
Weisungen des Gesetzes in das Gemuet des Gesetzestreuen
einverleibt worden sind, so dass hinfort die spontanen Handlungen
des Gestzestreuen den gesetzlichen Weisungen gehorchen; waehrend
die Weisungen des Gesetzes von dem Gemuet des Verbrechers
ausgeschlossen sind, so dass hinfort die spontanen Handlungen des
Verbrechers von den Weisungen des Gesetzes unbeeintraechtigt
bleiben.
Diese Betrachtungsweise fuehrt zu dem weiteren Ergebnis,
dass der Gesetzestreue und der Verbrecher sich darin von einander
unterscheiden, dass der Gesetzestreue die Folgen einer erwogenen
Handlungsweise als gesetzwidrig zu erkennen vermag; indessen der
Verbrecher unfaehig ist, aus welchen Gruenden auch immer, die
Folgen einer erwogenen Handlungsweise als gesetzwidrig zu
erkennen.
Darueber hinaus, ganz im allgemeinen, unterscheiden sich der
Gesetzestreue und der Verbrecher in den Erwartungen mit welchen
sie bevorstehende Handlungen beurteilen. Vorerst moechte man
annehmen, der Gesetzestreue sei klueger, empfindsamer,
vernuenftiger als der Verbrecher. Es ist aber vorteilhaft diesen
Fragen ohne Vorurteil zu begegnen, und jedenfalls die
Moeglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Handlungen des
Verbrechers sogenannt, sinnvoller und gutmuetiger, aus welchen
Gesichtspunkten auch immer, wuenschenswerter als die des
Gesetzestreuen erscheinen. Dies moechte in auffallender Weise
unter einem zerstoererischen Regiment wie das der deutschen Nazis
der Fall sein. Aber auch die kleinliche Buerokratie (petty
bureaucracy) schafft Situationen in denen der Verbruch des
Gesetzes, das Verbrechen also, nicht unbedingt zu beklagen ist.
So mag unter Umstaenden der Verbrecher ueber eine wahrere, der
Wirklichkeit getreuere Erwartung verfuegen als der Gesetzestreue.
Der Sinn und Zweck des strafenden Gesetzes ist nicht den
Verbrecher zu zuechtigen in dem Sinne, dass die Strafe ihn
verbessern moechte. Der Sinn und Zweck des strafenden Gesetzes
ist auch weder die Rache, noch die Wiederherstellung einer
gerechten Welt. Der Sinn und Zweck des strafenden Gesetzes ist
eine Abwandlung, eine Modifizierung der Welt, welche die
Handlungen kuenftiger Gesetzestreuer in vorgeschriebene Bahnen
lenken moechte, eine Abwandlung der Folgen bestimmter
Handlungsweisen, welche den Betreffenden veranlassen, mehr
unbewusst als bewusst, dem nachzukommen, was das Gesetz von ihm
verlangt. To create a situation in which the individual will be
induced, by conscious, but even more by unconscious awareness of
the consequences of his actions, to comply with the legal
mandate.
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