20050507.00
Was die Mathematik von anderen Geheimkuensten unterscheidet,
sind die Probleme, die Uebungen, die Aufgaben, die Fragen, welche
der Schueler beantworten, bezw. loesen muss um seine
Faehigkeiten, seine Kompetenz auf ihren Gebieten zu beweisen.
Ich will weder leugnen noch zu verbergen, dass ich im Mathematik
Examen durchgefallen bin. Mein Misserfolg sollte mir keineswegs
die venia legendi geben, ueber Mathematik hochtrabend zu reden;
sollte vielleicht vielmehr die Bestaetigung liefern, dass ich
nicht mitreden darf.
Dieselben Umstaende aber moechten dann wiederum den
Schluessel, oder jedenfalls einen Schluessel, ein Kriterion, fuer
das Verstaendnis der Mathematik und ihrer Bedeutung schaffen,
naemlich dieses: dass die Gueltigkeit eines mathematischen Satzes
dadurch bewiesen, bezw. bestaetigt wird, dass dieser Satz von
mehreren, von vielen, vielleicht von einer Mehrzahl, wenngleich
auch nie von allen Adepten als ueberzeugend, als zwingend
aufgefasst wird. Es ist die allgemeine Annahme, dass ein
vorgeschlagener mathematischer Satz gueltig ist, welche allein
ihn zu bestaetigen vermag. Eine Art Abstimmung von welcher die
meisten Menschen durch Einschuechterung ausgeschlossen werden.
In solcher Abstimmung bestuende dann eine empirische Bestaetigung
mathematischer Gueltigkeit. Ein Hinweis, wenn nicht gar eine
Beweisfuehrung, dass die Basis der Mathematik nicht anders als
die Basis der Sprache, ein gesellschaftliches, gemeinschaftliches
Uebereinkommen ist. Fast liesse die mathematische Gueltigkeit
sich auf eine Volksabstimmung zurueckfuehren, eine Abstimmung an
welcher wenngleich nicht alle, so dennoch die gewandtesten und
gewecktesten Gemueter einer Gesellschaft beteiligt sein sollen.
Es laesst sich nicht feststellen, wie viele und welcher Art die
moeglichen Beitraege zum mathematischen Gemeingut, welche
abgewiesen wurden; und doch lassen die nimmer endenden
Streitigkeiten unter ihnen, und die Arroganz und die Dogmatik der
herrschenden Mathematiker vermuten, dass die Abweisung des
Dargebotenen nicht rein sachlich zu begruenden ist, sondern
breitere und tiefere psychologische und soziologische Ursachen
hat. In diesem Zusammenhang ist besonders lehrreich die
Abweisung so vieler verschiedener Beweise fuer Fermats Grosses
Theorem, Beweise deren Ungueltigkeit keineswegs augenscheinlich
(selbstverstaendlich) ist, eine Gueltigkeit welche gegebenen
Falls erst durch das Imprimatur von fuehrenden Akademikern
bestimmt zu werden vermag.
Was die verstehende Begruendung der Mathematik anbelangt, so
ist es einerseits offenbar das die elementare Mathematik
praktisch unanfechtbar ist; und ebenso die sogenannte klassische
Newtonsche Mechanik bei gewohnheitsmaessigem Ausmass. Aber
vergleichbar mit dem Umstand, dass die Newtonsche Mechanik in den
Dimensionen des Weltraums und der elementaren Partikel durch
Relativitaets und Quantentheorie ersetzt werden muss, so hat auch
die Mathematik selbst ihre soziologischen und psychologischen
Begrenzungen. Die herkoemmliche Mathematik ist demgemaess
unvermeidlich und unabaenderlich durch die geistigen Faehigkeiten
des Einzelnen, spezifisch, durch sein Vorstellungsvermoegen und
durch seine Gedaechtnisfaehigkeit beschraenkt. Es gibt Gebiete
welche dem Einzelnen nicht unaehnlich einem gelobten Land
verboten und verschlossen bleiben. Es gibt so vieles, das er
nicht im Gedaechtnis zu behalten vermag. Und es wird manches
geben wovon auch der kluegste und eifrigste unter den
Mathematikern nicht wird versichern koennen ob es gueltig oder
ungueltig ist. Die Ausdehnung der mathematischen Lehren ueber so
viele Geister, mit so vielen Sprachen, in so viele Laender und
unter so viele Kulturen, muss doch unvermeidlich zum Babelschen
Turm fuehren bei dessen Bau den Mitarbeitern die gemeinsame
Sprache entfaellt (versagt), und das gewealtige wissenschaftliche
Unternehmen das auf gegenseitigem Verstehen beruhen muss, in
Missverstaendnissen zerfaellt. sich in Missverstaendnissen
aufloest.
Auch besteht kein Grund anzunehmen dass bei allem Erbluehen
und Fruchten dieser Wissenschaft ein solcher Verfall nicht schon
eingetreten ist; oder, wahrscheinlicher, dass die beschraenkenden
Kraefte des Uebermasses schon jetzt seine Wirksamkeit
beeintraechtigen.
So erscheint die Mathematik zuletzt als die vollstaendigste
und gelungendste Vergesellschaftung des menschlichen Geistes.
Bauen die Mathematiker vielleicht an einem Babelschen Turm?
* * * * *
Zurueck : Back
Weiter : Next
Inhaltsverzeichnis : Table of Contents