20050720.00 Zur Psychologie und Soziologie der Musik Es ist selbstverstaendlich, dass der Beteiligte an einem Gesang, an einem Chor, an einem Choral, an einem Lied, durch seine Beteiligung einer gemeinsamen Geistigkeit anheimfaellt, und dass indem er singt oder spielt, die Melodie, die Harmonie, der Geist des Liedes, der Geist der Komposition, sich seiner bemaechtigt. Eine aehnliche Gemeinsamkeit entsteht durch die Instrumentalauffuehrung im Konzert. Im Sologesang kommt das Gefuehl des Saengers einzigartig zum Ausdruck. Beim Spiel von Instrumenten hingegen, treten die Forderungen der musikalischen Technik in den Vordergrund und verdraengen oder verwandeln die emotionelle Beteiligung, allenfalls zum Teil, unter Umstaenden, scheinbar voellig. In der Auffuehrung wird das Gefuehl zum Gegenstand. Es wird objektiviert und geht in der Darstellung auf. Man frage mit recht in welchem Masse die Auffuehrung das Gefuehl vergeistigt, und in wie weit die Auffuehrung den Geist zu mechanischer Wiederholung, zu sklavischem Gehorsam erniedrigt. Die musikalische Auffuehrung wird dieweil sie geschieht, zu der beherrschenden Lebenserfahrung des Auffuehrenden, und bewirkt zugleich den Niederschlag des Gefuehls zu objektiver Gestalt und dessen aeusserste Vergesellschaftung. Dabei ist es offenbar, dass die von der Musik bewirkte geistige Gemeinsamkeit ihre Grenzen hat, dass sie keineswegs vollkommen ist, und dass sie unbeantwortbare Fragen und unloesbare Probleme nach sich zieht, Probleme die sich in verschiedenen dialektischen Saetzen darstellen lassen. Diese Probleme, welche weiterer Erlaeuterung anderen Ortes beduerfen, umfassen, unter anderen, die Dialektik der Konkurrenz der Kuenstler, die Dialektik des kuenstlerischen Ruhms und Erfolges, die Dialektik des Versagens, der gesellschaftlichen Unannehmbarkeit musikalischer Bemuehungen, wie z.B. in dem Mueller-Schubert Lied, dem letzten der Winterreise, von dem Leiermann, von dem gesungen wird: "Keiner mag ihn hoeren, keiner sieht ihn an." So auch die Geschichte von Grillparzer's armen Spielmann. Weiterhin die Dialektik des Zwists um musikalischen Stil und Inhalt. Wenn J.S. Bach wie etwa im Streit Zwischen Phoebus und Pan an der Liederlichkeit kaum verhuellter geschlechtlicher Schaekerei anstoss zu nehmen vorgab, indem er diese mit heiterer Ironie auf der musikalischen Buehne aufs anzueglichste parodierte, wie waere er erst mit Richard Wagner, Igor Stravinski oder gar mit Arnold Schoenberg umgegangen, vom Jazz, Boogie Woogie, Rock and Roll, und den mannigfaltigen anderen Ausbruechen musikalischer Barbarei ganz zu schweigen? Auch fuer den Einzelnen ist die musikalische Technik, das Spielen auf einem Musikinstrument die Objektivierung, die Vergegenstaendlichung seines Gefuehls. Schon im Solospiel, wie etwa beim Ueben auf der Geige oder auf dem Cello, wird das emotionale Erleben des Spielers in technische Fertigkeit verwandelt. Ein gleiches gilt vom Singen im Chor, vom Choral, vom Liedersingen, und letzten Endes, im tiefsten Sinne, auch von der Sprache, und besonders von der Sprache, durchweg von ihrem banalsten zu ihrem erhabensten Ausdruck. Bezeichnend fuer die Sprache ist der Niederschlag des Gefuehls, des gefuehlsgesteuerten Erlebens, (emotional experience) in Gedichten, in stilisierten Worten deren Eigenschaft es ist das Erleben aus welchem sie entstanden und dessen Ausdruck sie sind, aufs neue zu erwecken. Die Frage worin die Schoenheit der Musik bestehen moechte, und welchen Qualitaeten des Gefuehls die Musik entspricht ist unbeantwortbar. Die Schoenheit der Musik, ihre aesthetische Qualitaet, ist das Spiegelbild des Gefuehls das sie einerseits gestaltet und andererseits ausloest. Erst durch die Musik wird die Qualitaet des Gefuehls verlautbart; wird erst durch die Musik erweckt oder gar geschaffen. Das Gefuehl ist unabtrennbar von der Musik welche es hervorruft. In diesem Sinne ist die Musik, kaum weniger als die Sprache, ein konstitutiver Bestandteil des Menschendaseins. Auch in kleineren Gruppen geht Gefuehl oder Geist, geht die Intelligenz des Musizierenden in der Musik auf; und das gegebene Musikstueck ist in seiner Ausfuehrung die Wirklichkeit welche von den Ausfuehrenden gestaltet und erfuellt wird; und (fast) die einzige Wirklichkeit die ihnen zur Zeit der Ausfuehrung gegenwaertig ist. Es moechte sein, dass die Beteiligung an der Musik und die Betrachtung dieser Beteiligung miteinander unvereinbar sind, dass das Betrachten ein Aussenstehen besagt, und dass die Beteiligung das Betrachten ausschliesst. Mit anderen Worten, dass ein Beteiligter nicht betrachten kann, und ein Betrachter unmoeglich beteiligt zu sein vermag. Die Verwickeltheit der Beziehungen und der Kraefte in der Ausfuehrung musikalischer Stuecke ergibt sich aus der Rolle des Dirigenten und aus der Weise in welcher er seinen Pflichten nachkommt. Der einzelne Saenger fuegt sich dem Chor. Der einzelne Instrumentalist, dem Orchester. Beide entaeussern sie sich einer Individualitaet, welche jedoch der Musik unentbehrlich ist. Sie bedarf eines Ichs das eine Vorstellung des Stueckes in seiner Gesamtheit und in allen seinen Einzelheiten hegt, und das den Willen hat die verschiedenen Stimmen zur angebrachten Zeit erklingen zu lassen. Das Ich der einzelnen Saenger loest sich auf im Chor, das Ich der einzelnen Instrumentalisten loest sich auf im Orchester. Orchester und Chor werden zu einer vergroesserten und erweiterten vom Ich bereinigten Zusammensetzung, der Sinn und Wille abhanden gekommen ist. Deshalb beduerfen Orchester und Chor der Leitung eines Dirigenten als Geist und Seele, dessen Wahrnehmungen und Weisungen sie zu gehorchen haben damit Musik entstehen kann * * * * *

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