Heute ist Sonntag. Dein Brief mit den schoenen
Briefmarken und dem noch schoeneren Inhalt muss wohl schon
Donnerstag oder Freitag angekommen sein, und ich bin Dir das
Gestaendnis schuldig, dass, weil ich dringend mit der
Verfertigung von mehreren Eingaben in meinem Nantucket-
Prozess, davon spaeter, oder ein anderes Mal, beschaeftigt
war, und ich nur ueber was wir Amerikaner "a one track mind"
nennen, verfuege, wie unser verflossener Praesident, Gerald
Ford, von dem berichtet wird, "he couldn't chew gum and walk
in a straight line," er, der Brief, nicht der Praesident, bis
gestern abend ungeoeffnet vor mir auf dem Schreibtisch lag.
Als ich ihn aber gelesen hatte, begann ich Nacht und Tag
darueber nachzudenken, nicht die ganze Nacht, aber die
ungemessenen und wohl auch unmessbaren Zeitspannen wo ich
wach lag, und dann hin und wieder auf der schoenen Fahrt nach
New Hampshire, nach Crawford Notch, kurz jenseits dem
imposanten Mount Washington Hotel welches Du bei Euerm ersten
Besuch photographiertest. Anlass dieser Fahrt war eine
Gratwanderung ueber die sogenannte Presidential Berge, Mount
Clinton, Eisenhower, Clay, Washington, Jefferson, Adams und
Madison, welche Klemens mit Frau und den vier Kindern
angesetzt hatte. Mir erging es dabei wie dem alten
Attinghausen im Wilhelm Tell der so lyrisch beklagt das er
die Berge nicht mehr zu besteigen vermag. Anlass Margarets
und meines Mitkommen im zweiten Wagen war die Notwendigkeit
Klemens, nach dem er seinen Wagen am noerdlichen Endpunkt des
Wanderweges, in Randolph, abgestellt hatte, die vierzig oder
fuenfzig Kilometer zum Ausgangsort in Crawford Notch zurueck
zu fahren. Gegen mittag, zogen die sechs, mit Tornistern
beladen hinauf in die Berge, Margaret und ich machten einen
Spaziergang um einen zielichen Gebirgsteich, Amonoosuc Pond
geheissen, in der Naehe, und setzten uns dann in die
schattige Laube der Alpen Klub (Appalachian Mountain Club)
Herberge, wo ich mir die Zeit nahm Deinen Brief ein zweites
und ein drittes Mal zu lesen, im Vordergrund eine helle
Wiese, dahinter die steilen dunkel gruenen Berge des Passes,
und ueber allem der blaue Himmel. Der Rueckweg diente dann
den Brief und seine Fragen zu ueberlegen.
Zuerst aber eine Entschuldigung fuer das
expressionistisch extravagante Ende meiner letzten e-mail,
die Dich inzwischen erreicht haben mag. Ich beziehe mich auf
das "mit amerikanischen Gruss ... Heil ... was war doch der
Name?" Es fiel mir hinterher ein, dass Du sicherlich in der
Nazizeit zu jung warst um Dich der widerlichen Formel "Mit
deutschem Gruss, Heil Hitler" wit welcher es damals Mode war
Geschaeftsbriefe zu beschliessen, zu erinnern. Als ich von
schoenen Briefmarken schrieb, und die flatternden
Sternenbanner Briefmarkenfahnen vor meinen Augen sah, da
wurde mir uebel; und daher der ungeschickte Ausdruck. Die
Arroganz, die Brutalitaet und die Dummheit dieser Regierung,
- und des Volkes das sie stuetzt, was kann man darueber
sagen, das nicht abgeschmackt waere? Also ich entschuldige
mich, nicht der Regierung gegenueber, sondern Dir.
Nun zu den Fragen. Die erste, betreffs der Internet
Veroeffentlichung meiner Notizen "With the Flanders". Meine
Absicht war diese Aufzeichnungen der Flaenders Familie
zugaenglich zu machen, ohne damit aufzudringen. Euch
gleichfalls. Man fuegt die Internet Adresse des beliebigen
Texts (URL, Universal Resourse Locator) in die e-mail, und
lediglich durch das Klicken des URL wird der Text abgerufen,
und wen es nicht interessiert, der-die mag's uebersehen. Das
gleiche gilt fuer den Rest meines Webortes,
home.earthlink.net/~ernstmeyer . Die Vorstellung befriedigt
mich, dass was ich im Laufe der Jahre geschrieben habe, einem
etwaigen Leser zugaenglich sein moechte. Der rechte Leser ist
nie die Vielzahl, sondern "jener Einzelne", hiin enkelte, wie
Kierkegaard sich ausdrueckte. Und dass er - oder sie - nicht
in Erscheinung treten moechte, ist kein Anlass zur
Enttaeuschung. Ich denke, es ist die Eigenschaft der
Literatur, dass sie dem Geheimnis unverbruechliche Treue
leistet, und dem, den sie nichts angeht, sich als Unsinn
verschliesst, indessen das Verstaendnis als Schluessel dient
das Geheimnis zu offenbaren, wem es gebuehrt.
Der Anlass zu meiner Beschreibung jener Epoche in meinem
Leben, war die Entdeckung eine Flanderschen Familien Chronik
im Internet. Das URL dieser Chronik ist im ersten Satz
meiner Beschreibung angefuehrt. Solltest Du interessiert sein
und diese Chronik doch nicht finden, so ruf ab
"www.google.de" und suche "Donald Flanders", und die ganze
Donald Flanders Familie bietet sich Deiner Phantasie, - wie
sie mein Gedaechtnis aus seinem Schlummer weckte. Zu Beginn
hatte ich sogar die Namen der Kinder, Peter, Ellen und Jane
vergessen. Und mit den Namen kamen die Erinnerungen. Ich
fuehlte das Beduerfnis das Erinnerte nun endlich
aufzuschreiben, damit es nicht ein zweites Mal in
Vergessenheit geraten moechte.
Die Trennungsangst an welcher ich bis zu meinem 15.
Jahre litt, trat zuerst im Sommer 1931 in Erscheinung, als
ich als einjaeriges Kind und meine Schwester zwei Jahre
aelter meiner vaeterlichen Grossmutter fuer einen Monat
anvertraut wurden, waehrend meine Eltern eine Autofahrt
durchs Rheinland, Bayern und Wuerttemberg machten. Meine
Mutter hat oft die Erzaehlung meiner Grossmutter wiederholt,
dass ich einen Monat lang ununterbrochen geschrieen haette.
Man hat stets darauf hingewiesen, welche Belastung mein
Schreien fuer meine Grossmutter bedeutete; dass dieses
Schreien vielleicht auch Ausdruck eines gewissen Leidens
meinerseits gedeutet werden moechte, ist keinem je
eingefallen, und faellt auch mir erst vierundsiebzig Jahre
spaeter auf. Jedenfalls hatte ich in jenen Jahren der
fruehen Kindheit unaufhoerlich Angst vor dem Alleinsein. Der
erste Hilferuf dessen ich mich besinne ist die allabendliche
Litanei, sobald man mich zu Bett gebracht hatte: "Ich in hier
so alleine." Allerdings kann ich mich nicht besinnen, dass
man jemals versucht haette micht mit Drohungen oder Strafen
zum Schweigen zu bringen.
Das Debakel meiner Ferien im Kinderheim auf Juist, im
Sommer 1936 habe ich in meinen Flanders Notizen erwaehnt. Die
Ferienwoche in Liebenburg im folgenden Jahre unter der Obhut
Deines Vaters verlief angstlos, obgleich er mich einmal
ohrfeigte, wegen uebermaessiger Angrifflust auf einen
arischen Kameraden, eine Strafe die ich als gerecht empfand
ihm nie zur Last legte, und mein Vertrauen in seine Guete
nicht beeintraechtigte. Dann kam die Katastrophe bei
Flaenders. Hinterher, 1942, versuchte ich es in eighth grade
in Germantown Friends School, hielt es aber nur bis
Weihnachten aus, und blieb dann in Konnarock bis zum Herbst
1945, als ich twelfth grade endlich in Germantown Friends
School lobgepriesen bestand. Harvard und die entgueltige
Freiheit, kamen unmittelbar danach.
Ich erklaere mir meine Trennungsangst als Ausdruck des
Verlangens beheimatet zu werden. Ich meine mich zu besinnen,
dass ich zufrieden wurde, sobald man sich auf mich
einstellte, sobald man mir die Aufmerksamkeit, die Wartung
angedeihen liess, die ich beanspruchte. Ein anderer Ausdruck
dafuer ist Ungezogenheit.
Du raetst mir zur Autobiographie, und meinst ich sollte
die Romanschriftstellerei anderen ueberlassen. Ich sehe es
anders. Das kleine Fragment Autobiographie scheint Eindruck
zu machen, aber nur glaube ich, weil es so unbestimmt, so
lueckenhaft ist, weil es dem Leser die Freiheit gewaehrt,
sich auszumalen was tatsaechlich laengst in Vergessenheit
geraten ist. Ein ganzes Buch aber, kann man nicht mit
Vergessenheit fuettern, und Sinn hat das Ganze, ueberzeugend
ist es nur, wenn man schrankenlos die Wahrheit sagen kann.
Mit der Pubertaet jedoch, wird das Leben zur Luege, und wie
den Koerper so ist man genoetigt auch die Seele zu
verhuellen. Dann wird die Autobiographie zur Beschreibung
der Bekleidung, der Maske, der Persona, wie die Roemer
sagten. Dann beschreibt der Mensch sich von aussen, darf
sich nur von aussen beschreiben, wie andere ihn sehen, als
Erscheinung, denn was er wirklich denkt und fuehlt darf er
nicht schreiben, ebensowenig wie er es sagen darf.
Das Familienleben in meiner Eltern Haus bestand aus
Auseinandersetzungen. Mit ihrer hohen Intelligenz
beherrschte meine Mutter ihre Familie indem sie jeden
Gedanken zur Aussprache zwang. Sie fragte: "Was denkst Du?"
Und wenn ihr die Antwort nicht passte, sagte sie "Du luegst,"
denn sie wusste nicht nur was jeder zu denken hatte, sondern
was jeder tatsaechlich dachte. Meine Eltern erlaubten nicht
dass ich etwas Abfaelliges von ihnen aussprach. Und als ich
aelter wurde, und mich von dieser Vormundschaft befreite, -
natuerlich in Auseinandersetzungen, - die unvermeidlich oft
schmerzhaft wurden, da sagte meine Mutter, als drohte sie mir
die Zurechtweisung noch post mortem, "Na, wenn wir mal tot
sind, dann werdet ihr schoen ueber uns herziehen." Ich
glaube sie hatte recht, denn schon die Roemer hielten: De
mortuis nil nisi bonum dicere. Unter diesem Gesichtspunkt
ist wahrhaftige Autobiographie unmoeglich, und unwahrhaftige
Autobiographie ist und bleibt wertlos.
Und unter Lebenden ist die Sache noch heikler. Denn wir
leben doch in einiger Ruhe und Zufriedenheit miteinander oder
nebeneinander oder gegeneinander, nur indem wir unsere
Sprache behutsam auf den Widerhall abstimmen den sie in dem
Gespraechspartner erweckt. Ausgerechnet das ist doch das
Geheimnis der Diplomaten und Politiker. Die Wahrheit laesst
sich nicht dem anderen ins Gesicht sagen. Die Wahrheit laesst
sich vielleicht in einem Roman andeuten; und vielleicht kommt
einmal im Jahr oder einmal jedes zweite Jahr einer der das
Lesen versteht und erkennt den Roman, der auch nur das
Geringste wert ist, als die Seelenautobiographie seines
Verfassers.
Die wunderbaren Liebesbriefe mit denen Margaret und ich
einander kennen lernten sind saemtlich erhalten. Ich habe
sie im Computer, - wohl bemerkt, nicht im Internet,
gespeichert, um das einst erlebte umso einfacher ein weiteres
Mal zu wiederholen. Aber ich empfaende es als
Geschmacklosigkeit sie bei unseren Lebzeiten zu
veroeffentlichen; ebenso die Auseinansetzungen mit meiner
Schwester, mit meiner Schwiegertochter, die ehrliche
Beschreibung meiner Enkelkinder, meines Sohnes, meiner Frau,
und vor allem meiner selbst: welch ein Frevel zu wagen, das
zu veroeffentlichen.
Darin besteht doch eben der Inhalt und Sinn der
Dichtung, dass sie und nur sie es mir ermoeglicht, das Innere
nach aussen zu wenden; und wenn Dir mein Roman nichts gibt,
so ist dies, nicht weil ich nicht zu schreiben verstehe,
sondern weil es Zeit ist dass Du zu lesen lernst. Darin
besteht fuer mich der Wert des Internet Webortes (Website)
"home.earthlink.net/~ernstmeyer", dass sie Dir unverbindlich
die Gelegenheit gibt, Dich ueber mich zu informieren wenn Du
es moechtest, ohne dass es mir ein Beduerfnis ist, dass Du
dies taetest.
Lass es nur gesagt sein, dass der Roman "Die Freunde"
der den Einzug eines jungen Menschen auf der Universitaet
beurkundet selbst mit schon 350 Seiten noch unvollstaendig
ist, sein Ausgang zur Zeit noch ein Durcheinander, das mein
Gedaechtnis bis jetzt unfaehig war zu entwirren.
"Die Andere", nun seit vielen Jahren vollstaendig, mag
erstens und oberflaechlich als Faust Parodie gedeutet werden:
die Geschichte des Gelehrten der an seiner Philosophie
verzweifelt weil ihm die Frau fehlt. Waere Gretchen als Co-ed
im Studierzimmer erschienen, dann haette Mephisto sich den
Unsinn in Auerbachs Keller und den Unfug auf dem Brocken
ersparen koennen. Doehring ist der Familienname meiner
Mutter, - er heisst "Thueringer" - Doering verzweifelt an
seinem Beruf weil seine Frau gestorben ist. Im ersten Kapitel
begruendet das Buch sich selbst in einer ernstzunehmenden
Exegese des Schreibens und des Schrifttums. Klemens hat mich
darauf aufmerksam gemacht, dass diese gedankenreiche
Einfuehrung die meisten Leser abschrecken wird. Das ist ihr
Zweck, denn wer nicht denken will, oder kann, wird hier
nichts finden, oder hat, wie wir gelaeufig sagen, hier nichts
zu suchen.
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