20051101.02
Geschichte und Gedaechtnis
Wenn man, ganz im allgemeinen, ueber Geschichte schreibt,
laesst man das Gedaechtnis voellig aus dem Spiel. Ob die
Geschichte im Gedaechtnis haftet, ist nebensaechlich. Es
kommt dann eben lediglich auf den schriftlichen Bericht an.
Der Bericht haftet im Gedaechtnis, aber das, worueber
berichtet wird, haftet vorzugsweise nur in der Urkunde. Denn
jede Erinnerung moechte der Glaubwuerdigkeit der Urkunde
gefaehrlich sein. Die Urkunde selbst ist ein Museumstueck,
als Kostbarkeit bewahrt, um bei unzaehligen Gelegenheiten
aufs Neue gelesen zu werden, und somit als vermeintliche
Bruecke von der Gegenwart in die Vergangenheit zu dienen.
Die Urkunde selbst aber weiss nichts vom Verlauf der
Zeit. Sie bietet nur logische Formeln, bietet Zahlen,
geeignet die Einbildungskraft des Lesers zu
Vergangenheitsvorstellungen zu reizen. Der Reiz ist das
Erleben des Vergehens, des Dahinschwindens, und das
Zeitbewusstsein welches aus diesem Erleben entspringt.
Die so entstehende Vorstellung einer fernen
Vergangenheit ist Taeuschung, ist eine durch Formeln
heraufbeschworene Selbsttaeuschung; denn die Vergangenheit
ist begreifbar, wenn ueberhaupt, nur durch das Bewusstsein
des tatsaechlichen gegenwaertigen Vergehens des eigenen
Erlebens. Nur indem der Mensch sich bewusst wird, wie sich
sein eigenes Erleben von Augenblick zu Augenblick im Vergehen
befindet, ahnt er die Vergangenheit. Und es ist vor allem
das Bewusstsein des Vergessens, der Lethe, das Bewusstsein
das noch eben Erlebte nicht mehr (be)greifen zu koennen,
welches die Tatsache der Vergangenheit begreifbar macht.
Ein solches Bewusstsein ist unfaehig historischen Formeln
die Wirklichkeit des Erlebens, des Erlebten zu verleihen.
Es gibt nur scheinbar Urkunden verschiedenen Ranges.
Die vor fuenfhundert Jahren von einem Zeitgenossen verfasste
Urkunde ist im Prinzip von der heute verfassten Geschichte
dessen was damals geschah nicht zu unterscheiden. Denn beide
sind Urkunden in Bezug auf das Geschehen das sie beschreiben.
Alle Beschreibung ist von Vergangenem; das einzig
Beschreibbare das nicht vergangen ist, waere die anderweitig
inhaltlose Tat des Schreibens selbst.
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