20060510.00 Inbegriffen in das Studium und in den akademischen Vertrieb der Geschichte ist die Annahme, dass das sorgfaeltige Studium und Verwalten der Geschichte die Vergangenheit erst irgendwie zu bestimmen, und hernach irgendwie festzuhalten vermoechte. Fast erscheint es, als hoffte man die Vergangen- heit, oder was das anbelangt, (or for that matter,) die Gegenwart, was immer sie sein moechte, wissenschaftlich definiert (bestimmt), festzuhalten, um sie zuletzt, wie eine Mumie in Phrasen einbalsamiert, zu verewigen. Es ist der Mythos welcher uns aus dergleichen Traeumereien erweckt. Der Mythos erinnert uns an die Pflicht zu zweifeln, sowie an die Notwendigkeit zu glauben; er erinnert an die Ein- beziehung des Ichs, der Subjektivitaet, in jedenfalls alles historische (geschichtliche) Wissen; und bewirkt somit die endgueltige (conclusive) Zersetzung der angeblich objektiven historischen Wissenschaft. Im Anschluss an diese Erwaegungen, scheint es mir unverkennbar dass: 1) vergleichbar (strictly comparable) mit der unvermeidlichen Subjektivierung der historischen Wissenschaft, oder anders ausgedrueckt: 2) vergleichbar mit der subjektivistischen Untergrabung der historischen Wissenschaft, oder: 3) vergleichbar mit der Einverleibung der Subjektivitaet in die historische Wissenschaft und in die Geisteswissenschaften im allgemeinen: => die sogenannten Naturwissenschaften eine der Historie aehnliche objectiv-subjektive Beschaffenheit aufweisen; dass also nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern in aehnlicher oder vergleichbarer Weise auch die Naturwissenschaften eine unleugbare und unabdingbare Verwobenheit mit und Abhaengigkeit von der Subjektivitaet haben. <= Die Beweisfuehrung hiervon liesse sich auf verschiedene Weisen, von den verschiedenen Richtungen antreten. Da nun aber die Analyse des historischen Bewusstseins, die Theorie der historischen Erkenntnis, zu einem verhaeltnismaessig fortgeschrittenen Punkte entwickelt ist, scheint es praktisch die Entwicklung des Themas: "Naturwissenschaften aus subjektiver Perspektive," an diesen Punkt anzuknuepfen. Ich muss hier darauf hinweisen, dass der Ausdruck Geschichte zwei verwandte Bedeutungen hat: Erstens spricht man von der Geschichte metonymisch als von einer vermutlich laengst erkannten, tatsaechlich bestehenden, objektiven, gegenstaendlichen Welt; von dem also, das geschehen ist oder geschieht. Zweitens, aber, in grundsaetzlich anderem Sinn meint man mit "Geschichte" nicht das wovon erzaehlt wird, sondern lediglich die Erzaehlung selbst. Man erweitert diesen Begriff und spricht dann von der Geschichte als von einem Begriffsgebilde womit man das zeitliche, zeitgebundene Entstehen, die Entwicklung und vermutlich auch das einstige Dahinwelken nicht der erlebbaren Welt, sondern lediglich der Geschichtskunst, bezw. Geschichtswissenschaft, meint. Ich moechte behaupten, dass die Geschichte, in diesem, letzt angefuehrten Sinne als Wissenschaft gemeint, und nicht die Mathematik oder die mathematische Logik die prima scientia, die grundlegende oder die hoechste, das Fundament ode die Krone der Wissenschaften ist. Oder anders ausgedrueckt, dass wenn Mathematik die grundlegende Wissenschaft vom Standpunkt der Objektivitaet sein sollte, dann muss Geschichte als die grundlegende Wissenschaft aus der Perspektive der Subjektivitaet gelten. Man kann, im Geiste Kants den Versuch machen, die Wissenschaft idealisch formell as Ausdruck der Beschaffenheiten des menschlichen Geistes deuten. Mir selbst scheint es sinnvoller, diesen Formalismus zu vermeiden, statt dessen aber schlicht und einfach die Frage zu stellen, was heisst es zu behaupten, dass dieser oder jener Wissenschaftler etwas weiss; oder zwingender noch: was heisst es wenn ich behaupte, dass ich als Wissenschaftler etwas weiss? Ist es vernuenftig die Wissenschaft als mehr oder wesentlich anderes vorzustellen denn als Aggregat oder Kollektiv von Einzelwissenschaftlern wie ich selber. Und ist dann nicht jede Wissenschaft als ein geschichtlicher Ablauf, als historische Entwicklung zu verstehen? Die Naturwissenschaft, auch die Mathematik kann nur historisch, als entwickelte und sich fort entwickelnde geistige Taetigkeit des Menschen erklaert werden. Auch hat die Naturwissenschaft ihre eigene Geschichte; und in dieser Geschichte erscheint sie als historisches Gebilde. Das bedeutet vorerst, dass auch die Naturwissenschaft mit Mythus behaftet ist, dass auch sie als Mythus, gleich den Geisteswissenschaften dem Zweifel und dem Glauben unterliegen muss. Es ist nun durchaus gehoerig in Anlehnung an die akademische Mode der Universitaeten die Geschichte als ein "Fach", und eine Naturwissenschaft, z.B. die Chemie, als ein unterschiedliches Fach zu bestimmen. Aus diesen Erwaegungen ergibt sich: 1) dass die Geschichte als Fach seine eigene Geschichte, eine Geschichte mit anderen Worten zweiten Ranges hat, und 2) dass die Physik oder die Chemie als Fach, nicht anders als die Geschichte als Fach, jedes seine eigene Geschichte hat. Aus diesen Erwaegungen ergibt sich weiterhin, vielleicht wichtiger noch, dass die Rolle des Historikers als Beschreiber menschlichen Tun und Lassens, durchaus vergleichbar ist mit der Rolle des Physikers als Naturbeschreiber. Die Geschichte der Physik waere dann nicht nur, und vielleicht sogar nicht in erster Linie, die Chronologie einflussreicher Entdeckungen, die Beschreibung einer Fortschrittskette. Die Geschichte der Physik waere dann nicht nur, die von Fehler und Irrtum bereinigte Erzaehlung der Erfolge, vielmehr wuerde sie dann zu einer weit mehr wahrhaften und ueberzeugenden Chronik des Ringens einzelner einsamer Menschen um die Einklausulierung ihrer Erfahrungen, ihrer Beobachtungen, ihres Erlebens, in sprachliche oder mathematische Formeln; vor allem aber ein Ringen um Verstehen, Verstaendnis und Verstandenwerden; ein Ringen, mit anderen Worten, um die Mitteilbarkeit und Mitteilung gerade jener Wissenschaft in welche der einzelne Wissenschaftler verstrickt ist. Dies allein wuerde einen wesentlichen erkenntnistheoretischen Durchbruch darstellen. Die beschraenkende Eigenart herkoemmlicher wissenschaftlicher Erkenntnistheorie waere somit durchbrochen oder umgangen. Denn diese Eigenart liegt in der verschwiegenen oder ausgesprochenen Voraussetzung einer potentiellen idealischen Vollkommenheit des Wissens. Man setzt voraus nicht nur, die Greifbarkeit eines allumfassenden Wissens; man setzt auch voraus, dass dies allumfassende Wissen genau, praezise, akkurat, fehlerfrei, widerspruchsfrei zu sein vermoechte. Und in den Lehrbuechern schreibt man, als ob dies schon der Fall waere, als ob ein solches Wissen schon entdeckt waere; indessen die Tatsachen doch das Gegenteil aussagen. Die Gueltigkeit des wissenschaftlichen Beschlusses aber liegt nicht in tautologischer Uebereinstimmung seiner Klauseln miteinander; die Gueltigkeit des wissenschaftlichen Beschlusses liegt in einer unerkannten, unerwarteten, ungeahnten Koinzidenz der Geisteshandlung mit der Natur. Die Beschraenkung des wissenschaftlichen Beschlusses liegt in seiner Fragmenthaftigkeit, liegt in der Isolierung des Forschers, in seiner funktionellen Abgeschiedenheit, liegt in seinem nicht Verstandenwerden ebenso wie in seinem Nichtverstehen. Die Wirksamkeit seiner wissenschaftlichen Forschung aber liegt in der gesellschaftlichen Entgegennahme, seiner Beschluesse. Die Wirksamkeit der wissenschaftlichen Forschung liegt dann auch in ihren Wirkungen; seien diese praktisch, technisch, gesellschaftlich oder gar psychisch. =========================== In gewissem Sinne hat der Wissenschaftler sich in einen Apparat, in eine Maschine, verwandelt, welche nunmehr nach gesellschaftlich vorgeschriebenen Regeln ablaeuft. =========================== Die Wissenschaft gleicht einer Landkarte; zu welcher ein Stueckchen hinzuzufuegen die Aufgabe eines jeden Wissenschaftlers ist. Die Beschraenkung der Wissenschaft besteht dann aber auch darin, dass diese Landkarte letztlich zugleich unuebersichtlich und unmitteilbar ist. Kein einziger Forscher vermag zulaenglich informiert zu sein; und dies nicht nur ueber Ergebnisse auf fremden Gebieten, sondern am bedeutendsten, auf seinem eigenen. Wobei es dahingestellt bleiben muss, was denn eigentlich mit "informiert sein", um von "verstehen" ganz zu schweigen, gemeint sein moechte. * * * * *

Zurueck - Back

Weiter - Next

2006 Index

Website Index

Copyright 2006, Ernst Jochen Meyer