20061017.00 Ueber Entidealisierung Bei den verschiedensten Ueberlegungen stosse ich auf das Phaenomen der Idealisierung, kuerzlich in Hinsicht auf die Literaturgeschichte ins Besondere, und die Geistesgeschichte (Philosophie) im Allgemeinen. Die Vorstellung des Klassischen scheint mir dafuer prototypisch: dass es eine Klasse auserwaehltger (selected) Schriften geben sollte, denen die ausserordentlichsten Vorzuege anhaften sollen. Allein die Tatsache, dass (vielmals) das Alter, die Antike, den Ueberlieferten Gegenstand zu veredeln scheint: sein hohes Alter allein ist Anlass zu der Annahme, dass ein Gedicht, eine Bronze, ein Marmorbild "schoen" ist, ungeachtet dessen, dass das Wertstueck unbegreifbar, beschaedigt, zerstueckelt oder kaum erkenntlich sein moechte. Alles ist des Entidealisierens beduerftig. Die bildende und malende Kunst, (vornehmlich die der Moderne), die Dichtung, die Literatur in allen ihren Zweigen, die Geschichte, die Politik, die verschiedenen Wissenschaften, jede nach ihren eigenen Gesetzen, die eigenes Vergangenheit, die Familie, und letztlich, und sicherlich am Bedeutendsten, das eigene Ich. Auch scheint mir entschieden die Entidealisierung die Aufgabe des Alters, vielleicht sogar die Aufgabe des Ruhestandes vom aktiven Leben. Denn dem Leben vor allem des jungen taetigen Menschen ist die Idealisierung unentbehrlich. Man mag Unentbehrlichkeit der Idealisierung beim Denken erkennen, bei der Sprache, beim Wirken der Sinnesorgane, beim Sehen und Hoeren, bei der Konstruktion, bezw. Gestaltung der gesellschaftlichen und der eigenen Lebenswelt. Entsprechend ist die Entidealisierung die Vorwegnahme (Antizipation) des Sterbens, ist Aufloesung, ist Ablehnung - ist Verneinung - des Lebens zu Gunsten der Erkenntnis. Es muss eingesehen und zugegeben werden: Das Leben ist, seinem Wesen nach Idealisierung, ist seinem Wesen nach, Taeuschung. Dementsprechend bedeutet enttaeuscht zu werden, zu sterben. (Welch ein sinnvoller Gebrauch des Ausdrucks Enttaeuschung. Die Verwirklichung des Lebens ist die Enttaeuschung ja von den Idealen, von der Taeuschung.) Idealisierung ist die Folge menschlicher geistiger Taetigkeit; ist Ausdruck des menschlichen Gemuets. Das Auge idealisiert wenn es sieht; das Ohr (Gehoer) idealisiert wenn es hoert. Und die (begriffliche) Mitteilung, die (formelle) Erziehung ist in hohem Masse Idealisierung. Der (junge) Mensch wird zum Leben bereitet indem ihm Worte, Begriffe eingetrichtert werden, Begriffe welche er assimiliert, denen er sich angleicht, und denen ensprechend er handelt und, ganz im allgemeinen, sein Leben fuehrt. Indem er reifer und aelter wird, entwickelt der Mensch seine eigene Erfahrung, sein eigenes Erleben, sein eigenes Verstaendnis, und diese draengen ihn dann zur Neuuntersuchung (reconsideration) seiner Begriffe. Sein Gemuet verwandelt sich, insofern als im Laufe der Jahre, Begriffsgruende durch Erlebnisgruende (oder Erlebensgruende) erstetzt werden. Das Netz der Literatur und der Literaturgeschichte weist einen besondern Bedarf fuer Entidealisierung auf. Denn was der Mensch beim Lesen und Schreiben erlebt ist voellig verschieden von seinen Erwartungen und Voraussetzungen. * * * * *

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