20070729.01
Wenn es mir heute vorkommt, als gewaenne ich in meinem
ziemlich hohen Alter tiefere Einblicke in die Welt und in
mein eigenes Wesen, so muss ich mich fragen, ob diese
Vermutung tatsaechlich ein gueltigeres Verstaendnis besagt,
oder ob es nicht vielmehr ein Abschwaechen des
Erkenntnisdranges ist, der sich nunmehr mit wesentlich
geringeren Ertraegen zufrieden gibt.
Diese Frage muss unbeantwortet bleiben, jedenfalls
insofern und so lange das Wissen, das Verstaendnis, die
Einsicht rein persoenlich, individuell bleibt. Erst wenn
die vermeintlich tieferen Einsichten oeffentlich erwogen
wuerden, koennte es sich herausstellen inwiefern mehr als
Einbildung an ihnen haftet. Also nur dem Leser, dem
wohlwollenden, gedankenvollen Leser ist die Antwort
vorbehalten.
Erkenntnis, allenfalls ueberlegte, besonnene
Erkenntnis ist Ausdruck eines Beduerfnisses, eine bewussten
Dranges, wie z.B. Goethe ihn im Faust so ergreifend und
ueberzeugend beschrieben hat. Faust ist die Dramatisierung
des Beduerfnisses nach Wissen und Verstehen. Das Merkmal
des Wissensdranges ist das Bewusstsein des Nichtwissens,
das Bewusstsein der Unzulaenglichkeit all dessen das man zu
wissen meinte. Warum sollte nicht im Alter, wie andere
Triebe, der Wissenstrieb nachlassen. Ein solches Abflauen
haette dann zur Folge, dass man die Maengel des
vermeintlich Begriffenen uebersaehe, dass man sich mit dem
Gewussten abfaende, dass man mit seiner Unwissenheit einen
Waffenstillstand einrichtete, dass man sich nicht mehr so
dringend nach besserem Wissen sehnte, und die Gueltigkeit
des vertrauten Wissens entsprechend unkritisch
ueberwertete.
In meinem hohen Alter meine ich zweierlei zu erkennen:
1. Das Urteil, jedes Urteil, worueber immer es sein mag,
ist nicht nur, und vielleicht nicht einmal im wichtigsten
Sinne, ein Spiegelbild der Natur, sondern ein Ausdruck
eigener Faehigkeiten, Schranken, und Beduerfnisse. 2.
Begriffliche Feststellungen, wissenschaftliche Aussagen
also, sind in hohem Masse durch die Symbolik bestimmt, mit
welcher sie zum Ausdruck kommen. Die Symbolik, Sprache
sowohl als auch Mathematik, ist Ausdruck zugleich der
Anlagen des Einzelnen und der gesellschaftlichen
Wechselwirkung (Interaction) aus welcher die Sprache
entsteht. Die Symbolik, Sprache und Mathematik, ist
Ausdruck des Menschengeistes. Somit ist es der Geist des
Menschen, mit all seinen Schranken, der das Wissen
bestimmt. Das Wissen wie auch die Sprache wird
fortwaehrend durch das Erleben gestaltet und umgestaltet.
Auf der Beziehung zum Erleben beruhen Wirksamkeit der
Sprache, des Wissens und ins Besondere, die Wirksamkeit der
Wissenschaft. 3. Zwischen Symbolik und Geist besteht eine
wechselseitige Beziehung. Die Symbolik (Sprache und
Mathematik) entspringt dem Geist, dient dann aber auch
wiederum den Geist zu gestalten.
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