20081124.00
Tell mit der Armbrust.
Tell:
Wer ist der Mann, der hier um Hülfe fleht?
Kuoni:
Verteidigt, und den Wolfenschiess erschlagen,
Des Königs Burgvogt, der auf Rossberg sass -
Des Landvogts Reiter sind ihm auf den Fersen.
Er fleht den Schiffer um die Ueberfahrt,
Der fürcht't sich vor dem Sturm und will nicht fahren.
Ruodi:
Da ist der Tell, er führt das Ruder auch,
Der soll mir's zeugen, ob die Fahrt zu wagen.
Tell:
Wo's not tut, Fährmann, lässt sich alles wagen.
Heftige Donnerschläge, der See rauscht auf.
Ruodi:
Ich soll mich in den Höllenrachen stürzen?
Das täte keiner, der bei Sinnen ist.
Tell:
Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt,
Vertrau' auf Gott und rette den Bedrängten.
Ruodi:
Vom sicheren Port lässt sich's gemächlich raten,
Da ist der Kahn und dort der See! Versucht's!
Tell:
Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen,
Versuch es Fährmann!
Hirten und Jäger:
Rett ihn! Rett ihn! Rett ihn!
Ruodi:
Und wär's mein Bruder und mein leiblich Kind,
Es kann nicht sein, s'ist heut Simons und Judä,
Da rast der See und will sein Opfer haben.
Tell:
Mit eitler Rede wird hier nichts geschafft,
Die Stunde dringt, dem Mann muss Hülfe werden.
Sprich, Fährmann, willst du fahren?
Ruodi:
Nein, nicht ich!
Tell:
In Gottes Namen denn! Gib her den Kahn,
Ich will's mit meiner schwachen Kraft versuchen.
Kuoni:
Ha, wackrer Tell!
Werni:
Das gleicht dem Waidgesellen!
Baumgarten:
Mein Retter seid Ihr und mein Engel, Tell!
Tell:
Wohl aus des Vogts Gewalt errett ich Euch,
Aus Sturmesnöten muss ein andrer helfen.
Doch besser ist's, Ihr fallt in Gottes Hand,
Als in der Menschen! Zu dem Hirten: Landsmann, tröstet Ihr
Mein Weib, wenn mir was Menschliches begegnet,
Ich hab getan, was ich nicht lassen konnte.
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Den vorhergehenden Auszug der ersten Szene von Schillers
Wilhelm Tell hab ich vor vierundsiebzig Jahren, als Kind,
fast auswendig gelernt. Vielleicht ist es deshalb,
dass mir seine Verse unvergesslich geworden sind.
Die Zeilen:
"Doch besser ist's, Ihr fallt in Gottes Hand,
Als in der Menschen!"
habe ich schon frueher, anderswo kommentiert. Heute
beschaeftigen mich die Worte: "Der See kann sich, der
Landvogt nicht erbarmen,"
Wie soll ich mir vorstellen, dass sich der See
erbarmen kann? Warum kann sich der Landvogt nicht
erbarmen?
Die zweite Frage ist zugaenglicher, und ich moechte
sie zuerst besprechen. Die oberflaechliche, seichte Antwort
waere, dass der Landvogt sich nicht erbarmen kann, weil er
tot ist; Baumgarten hat ihn erschlagen. Dagen ist dass der
erschlagene Wolfenschiessen nicht Landvogt sondern Burgvogt
war, und dass es nicht des Burgvogts sondern des Landvogts
Reiter sind die den ungluecklichen Baumgarten verfolgen.
Dem Text zufolge also ist der erbarmensunfaehige Landvogt
nicht der erschlagene Burgvogt, sondern ein noch lebender,
dessen Unerbittlichkeit auf sein Amt und seine Pflicht den
Mord zu bestrafen und zu raechen zurueckzufuehren ist.
Der Landvogt kann sich nicht erbarmen weil er ein
Beamter ist. Die Pflichten des Amtes schliessen das
Erbarmen aus. Wenn die Person des Landvogts sich erbarmte,
so waere es ein Einzelner, ein Individuum das sich vom
Landvogt unterschiede und dessen amtlichen Pflichten untreu
wuerde. Der Beamte ist verpflichtet Bestimmungen,
Gesetzen, Regeln gemaess zu handeln; indessen ist das
Erbarmen Ausdruck von Mitgefuehl, von Sympathie, von
Menschenliebe, welche dem Amtierenden als Beamten
vorenthalten ist. Man sollte sich dieser amtlichen Armut
erinnern, wenn man das Amt des Priesters, Pfarrers,
Rabbiners bedenkt.
Wesentlich schwieriger ist die Frage, wieso der
stuermische See sich zu erbarmen vermag. Betrachtet man den
See als Gottes Werkzeug, so vermag der See sich zu
erbarmen, wie sich Gott erbarmt. Solange man aber das
Erbarmen als einen objektiven oeffentlichen Vorgang
betrachtet, ist es ungereimt anzunehmen dass der leblose
See sich zu erbarmen vermag. Das Bild aendert sich jedoch
wenn man das Erbarmen als einen Vorgang betrachtet der sich
nicht nur und vielleicht sogar auch nicht in erster Linie
im Gemuet des sich Erbarmenden abspielt, sondern in
betraechtlichem Masse im Gemuet, beziehungsweise in der
Seele dessen, der das Erbarmen empfaengt. Die eigentliche
Wohltat des Erbarmens besteht nicht in dem praktischen
Nutzen welche der Erbarmungsempfaenger erfaehrt, sondern in
der inwendigen Gemeinschaft mit dem Erbarmenden welche der
Empfaenger erlebt, ein Geborgensein dessen Wert unter
Umstaenden weit groesser ist als die aeusserlichen,
wenngleich rettenden Vorteile welche das Erbarmen spendet.
Sogar der stuermende See vermag Geborgenheit gewaehren; und
dies unter zwei Umstaenden. Der See "erbarmt sich" und
bietet Geborgenheit, wenn der Sturm sich legt. Aber selbst
im wuetenden Sturm und im Angesicht des drohenden Todes mag
der Gefaehrdete Geborgenheit erleben wenn es ihm gelingt
sich in sein Schicksal zu fuegen und "Eines zu sein mit
allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit
wiederzukehren in's all der Natur." Hingegen macht die
pflichtbewusste und amtsgetreue Feindseligkeit des
amtierenden Vogts die menschliche Beziehung, welche das
Erbarmen voraussetzt, unmoeglich.
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